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Erfahrungen eines Freitodbegleiters

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28.01.2022
Der 90-jährige Pfarrer Werner Kriesi begleitet bei Exit seit dreissig Jahren Menschen in den Tod. In der Kirchgemeinde Münchenstein, wo er auch acht Jahre lang als Gemeindepfarrer wirkte, redet er über das Sterben.

Im Jahr 2020 wies die Sterbehilfeorganisation Exit 135 041 Mitglieder aus und führte 913 Freitodbegleitungen durch. Als Pfarrer Werner Kriesi in den 1990er-Jahren zu Exit stiess, zählte die 1982 gegründete Organisation mehrere 10 000 Mitglieder. Ab 1998 leitete Kriesi bei Exit die Freitodbegleitung. Kurzzeitig übernahm er zusätzlich das Präsidium. In den letzten dreissig Jahren hat der Pfarrer Hunderte Menschen in den Tod begleitet. Dafür wird er auch immer wieder kritisiert. Er überrede Leute zum Sterben und sei fasziniert vom Tod, lauten etwa die Vorwürfe. Das bestreitet der Pfarrer. Er verspüre bis heute keine Gelassenheit gegenüber Tod und Sterben, und er ist überzeugt, dass jeder und jede persönlich entscheiden darf, wann der Zeitpunkt zum Sterben da ist.

Vom Schreiner zum Theologen
Werner Kriesi kommt 1932 zur Welt und wächst in einer freikirchlichen Familie auf. Er lernt Schreiner, macht eine Ausbildung zum evangelikalen Prediger und studiert schliesslich an der Universität Basel Theologie. Acht Jahre lang amtet er als Pfarrer in Münchenstein, bevor er von 1976 bis zu seiner Pensionierung 1996 in Thalwil wirkt. Dort bittet ihn ein Gemeindemitglied mit den Worten «Nächste Woche will ich sterben. Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer …» um Sterbebegleitung. Dies ist der Beginn seines Engagements.

«Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer», lautet auch der Titel von Suzann-Viola Renningers Buch, das letztes Jahr erschienen ist. Die Philosophin traf Werner Kriesi mehrere Monate lang zu ausführlichen Gesprächen. Er erzählte ihr aus seinem Leben und von seinen Freitodbegleitungen, von der jungen, an Krebs erkrankten Mutter über den Wissenschaftler mit beginnender Demenz bis zum greisen katholischen Priester und über die Selbstzweifel, die ihn mitunter befallen.

Renninger thematisiert aber auch die moralischen Dilemmata, philosophische und theologische Fragen sowie den gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Sterbehilfe.

Das Dilemma
Werner Kriesi illustriert das Dilemma jeweils durch zwei persönliche Erlebnisse. Seine Grossmutter fiel im hohen Alter zu Hause ins Koma. Der Arzt kam vorbei und beschied der Familie, dass er nichts mehr tun könne. Wenige Tage später starb die betagte Frau. Dreissig Jahre später fiel Kriesis Mutter nach dem dritten Hirnschlag ebenfalls ins Koma. Dank medizinischer Hilfe erwachte sie drei Wochen später wieder. Sie war jedoch gelähmt und konnte nicht mehr sprechen, bekam aber alles mit. Erst drei Jahre später starb sie. Werner Kriesi ist sich sicher, dass seine Mutter das nicht wollte und dies auch gesagt hätte, wenn sie noch hätte reden können. Für Kriesi stellt sich hier die Frage, wo die Lebensverlängerung aufhört und die Sterbeverlängerung beginnt.

Im Februar besucht Werner Kriesi seine ehemalige Kirchgemeinde Münchenstein und stellt das Buch von Suzann-Viola Renninger vor, das ihn porträtiert. Er spricht über das Sterbenwollen, Sterbenkönnen und Sterbendürfen. Die Veranstaltung sei kein Streitgespräch pro und contra Exit, betont der Münchensteiner Pfarrer Markus Perrenoud. Die Anwesenden sollen sich die Erfahrungen von Werner Kriesi anhören. Allfällige kritische Rückfragen würden sich dann von selber ergeben.

Karin Müller

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