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«Die Betreuung von Aussteigewilligen ist sehr anspruchsvoll»

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05.05.2022
Beatrice Bänninger, Geschäftsführerin von Solidara Zürich, über die Auswirkungen der Pandemie auf das Milieu, die Sorge um ukrainische Flüchtlingsfrauen und Wege aus der Sexarbeit.

Beatrice Bänninger, die Beratungsstelle für Sexarbeitende, Isla Victoria, gibt es nun rund 20 Jahre. Wie hat sich die Branche in der Zeit verändert?
Sehr stark. Die Einführung der Personenfreizügigkeit und die EU-Osterweiterung waren einschneidend. Seitdem kommt unsere Klientel aus dem ganzen EU/Efta-Raum, denn mit Meldeverfahren ist es möglich, hier 90 Tage zu arbeiten. Das Gewerbe wurde internationaler, die Fluktuation höher. Hinzu kamen die Gentrifizierung und steigende Preise im Langstrassenquartier. Die Agglomeration spielt deshalb heute eine grössere Rolle. Und die sozialen Medien sind für die Kontaktanbahnung zwischen Freiern und Sexarbeitenden sehr wichtig geworden.  

Was heisst das für Ihr Team?
Unsere Mitarbeiter sind sehr gut ausgebildet, kommen entweder aus dem Gesundheitsbereich oder der Sozialarbeit und sie müssen auch in migrationsrechtlichen und sozialhilferechtlichen Fragen fit sein, denn diese Themen haben sich verstärkt. Die goldenen Zeiten für unsere Klienten und Klientinnen sind vorbei und die Pandemie hat das noch verstärkt. 

Zeitweise war Prostitution ganz verboten während der Pandemie. Wie haben sich die Sexarbeitenden über Wasser gehalten?
Im harten Lockdown hat man sich mehrheitlich an das Verbot gehalten. Es gab auch Unterstützung der öffentlichen Hand. Wir haben bei der Auszahlung geholfen, insgesamt einen sechsstelligen Betrag ausgezahlt. Schwieriger wurde es später, als es kein Verbot mehr gab, dafür aber Maskenpflicht und weitgehende Einschränkungen im Gastgewerbe. In Zürich war das Erotikbusiness ab Herbst 2020 besonders strengen Kontrollpflichten unterlegen. Die Sexarbeitenden mussten von den Freiern die Ausweise kontrollieren. Das war ein faktisches Verbot, denn das Gewerbe lebt eben von der Anonymität. Und ehrlich gesagt, hatte man schon den Eindruck, hier wird unter dem Deckmantel der Pandemie eine Politik betrieben zur Eindämmung der Prostitution, die man ohnehin gerne eingedämmt sehen will. 

Zeigt die Pandemie noch Wirkung?
Die Nachfrage ist niedriger als vorher. Gerade ältere Männer haben ziemlich Respekt vor Corona. Gleichzeitig kommt eine grösssere Anzahl von Frauen in die Schweiz, um hier zu arbeiten. Während der Pandemie haben die Sexarbeitenden teils hohe Schulden angehäuft, die sie nun nicht abzahlen können. 

Aus der Ukraine flüchten viele Frauen in die Schweiz, sie stehen an kostenlosen Essensabgaben Schlange. Sehen Sie Anzeichen, dass Ukrainerinnen vermehrt ins Sexgewerbe einsteigen?
Wir sind diesbezüglich besorgt und sehr wachsam. Auch wenn wir für medizinische Beratungen in Salons gehen, halten wir Augen und Ohren offen. Wir sind mit dem Amt für Wirtschaft und Arbeit diesbezüglich in Kontakt. Aber bislang gingen keine Bewilligungsgesuche für selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit im Erotikgewerbe ein.  

Die wirtschaftliche Basishilfe der Stadt Zürich sollte auch Ihrem Klientel über die Pandemie hinweg helfen. Im Februar scheiterte sie, weil eine Frist nicht eingehalten wurde. Wie sehr trifft Sie das?
Im Verlauf des Pilotprojekts zeigte sich, dass unsere Zielgruppe ohnehin sehr wenig profitiert. Die Bedingungen waren sehr streng, etwa die Aufenthaltsdauer in der Schweiz und der Stadt Zürich. Auch leben viele Sexarbeitende finanziell knapp über dem Limit, das zum Bezug berechtigte. Als entscheidender erwies sich für die Selbstständigen die Corona-Erwerbsentschädigung. Auch der Corona-Batzen der reformierten Kirche Stadt Zürich war für einige ein grosser Lichtblick.

Hoffen Sie noch auf die Basishilfe, vielleicht mit anderen Kriterien?
Soviel ich weiss, ist das Thema politisch noch nicht vom Tisch. Wann es relevant wird und mit welchem Inhalt, weiss ich nicht. Für unsere Zielgruppe wären aber Änderungen bei den Bezugskriterien entscheidend.

Forderungen nach einem Verbot der Prostitution werden immer mal wieder laut. Sie lehnen das ab. Warum?
Prostitution ist – egal ob erlaubt oder verboten – eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität und zwar weltweit. Zwar gibt es immer wieder Menschen, die aussteigen wollen, aber dann kommen auch gleich neue nach. 

Ihrer Küchenangestellten helfen Sie beim Ausstieg. Warum machen Sie das nicht an breiter Front?
Wir ermuntern unsere Klientinnen und Klienten zum Besuch von Deutschkursen als Basis für andere Tätigkeiten. Und wir helfen beim Schreiben von Lebensläufen, vermitteln auch einmal den ein oder anderen Job. Aber es fehlen uns die Ressourcen, um das in grossem Stil zu fördern. Wir müssten beispielsweise einen Pool von Arbeitgebern, aufbauen, die ehemalige Sexarbeitende anstellen. Das ist sehr zeitintensiv, das konnten wir mit unseren vorhandenen Stellenprozenten bisher nicht leisten. Auch die Betreuung von Aussteigewilligen ist sehr anspruchsvoll. Die Frauen haben teils sehr unterschiedliche Voraussetzungen für andere Jobs, dann vielleicht noch Kinder. Da wird es schnell kompliziert. 

Die seelische Belastung ihrer Mitarbeitenden ist aussergewöhnlich hoch. Wie gehen Sie als Organisation damit um?
Es braucht eine hohe Resilienz, die Fähigkeit, all die Geschichten, Schicksale, Lebensentwürfe im Büro zu lassen, wenn die Arbeit aufhört. In der Pandemie war das noch schwieriger, es wurden so viele Tränen in unseren Büros vergossen. Da braucht es auch einen guten Teamzusammenhalt, Menschen, mit denen man auch einmal lachen kann. Wir haben ein Team mit sehr starken Persönlichkeiten, aber auch die kamen in den letzten zwei Jahren hin und wieder an ihre Grenzen. 

Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Sexarbeitenden?
Nicht nur. Die Pandemie und die damit verbundenen Nothilfeauszahlungen und Abgaben von Detailhandelsgutscheinen haben uns in eine Zwickmühle gebracht. Manchmal entstand der Eindruck, wir sind ein Kiosk oder eine Bank und nicht ein Team von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen. Wir wollen die Menschen eigentlich in schwierigen Lebenslagen unterstützen. Und nicht nur finanziell beraten, ihnen sagen, dass sie diese oder jene Voraussetzungen erfüllen müssen, damit wir ihnen helfen können. Natürlich wollen wir, dass unser Klientel auch von finanziellen Hilfen profitiert. Aber diese neue Rolle war nur schwer mit unserer Beratungsrolle vereinbar. Wir wollen niederschwellig helfen, wir sind kein Sozialamt.

Cornelia Krause, reformiert.info

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