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Die Vernunft des Herzens

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01.01.2016
Der Mensch bestehe aus Materie und Geist, behauptet die Wissenschaft. Der Psychiater Daniel Hell fordert, auch die Seele ernst zu nehmen. Wer sie vergisst, der verliert den Blick für das Wesentliche.

Herr Hell, der Westen, insbesondere die Schweiz, könnte das glücklichste Land auf der Erde sein. Doch Umfragen wie des Sorgen­barometer bestätigen, wir haben Angst oder leiden unter Stress oder dem Gefühl der Zerrissenheit oder der Sinnlosigkeit. Was ist mit uns los?
Wohlstand erleichtert das Leben. Aber er ist keine Glücksgarantie. Das Streben nach immer grösserem materiellen Reichtum ist mit Zufriedenheit schlecht vereinbar. Unsere Leistungs- und Erfolgsgesellschaft kann Menschen auch das Fürchten lehren. Sie kann etwa die Angst, zu kurz zu kommen, verstärken oder ein mögliches Scheitern besonders bedrohlich machen.

Warum haben wir das Gefühl, unser Leben nicht mehr so gestalten zu können, wie wir wollen?
Selbständigkeit stellt heute einen besonders hohen Wert dar. Autonomie und Selbstverantwortung sind moderne Schlagworte. Umso mehr trifft es uns, wenn wir diesen Ansprüchen nicht genügen oder wenn wir den Eindruck gewinnen, das Leben nicht im Griff zu haben. Wir glauben dann zu versagen, obwohl vieles in unserem Leben gar nicht in unserer Macht steht.

Stehen wir heute unter dem Zwang zur Selbstverwirklichung? Waren unsere Gross- und Urgrossväter in dieser Hinsicht weniger glücklich?
Frühere Generationen waren noch stärker in Familie und Gemeinde eingebunden. Sie kannten weniger Mobilität und Flexibilität. Ihre grössere lokale Verwurzelung ging aber auch mit grösserer Abhängigkeit und Enge einher. Im heutigen Individualismus wollen wir unser Leben selber gestalten können. Als Macher leiden wir weniger als frühere Generationen am Schicksal, dafür mehr am «Machsal», also an dem, was wir uns selber aufbürden oder was wir uns selber eingebrockt haben.

Sie propagieren dafür, sich wieder mit der Seele zu befassen. Ist uns zu wenig bewusst, dass wir neben dem Körper, Geist noch eine Seele haben?
Ja, meine therapeutischen Erfahrungen lehren mich, den Menschen weder auf Materie noch auf Geist (im Sinne von Verstand) oder auf beides zu reduzieren. Sonst kommt das seelische Erleben zu kurz. Wer nur auf den Körper achtet und sein seelisches Erleben missachtet, verfehlt oft, was Gefühle und Empfindungen ihm an wichtigen Botschaften vermitteln. Auch Sachverstand genügt meist nicht, um beispielsweise zwischenmenschliche Beziehungen günstig zu gestalten. Das Nicht-Beachten des Seelischen hat heute auch damit zu tun, dass vor allem zählt, was visuell festgehalten und mit dem Verstand analysiert werden kann. Dadurch laufen wir Gefahr, einen Röhrenblick zu bekommen. Statt den Menschen und die Welt auch mit den inneren Sinnen zu erfahren, neigen wir dazu, sie nur noch durch das (Tele-)Objektiv einer Kamera festzuhalten.

Was können wir für unsere Seele tun? Was braucht sie? Ein Wellnesswochenende? Eine Party mit Freunden? Eine Woche Stille im Kloster?
Das kann und darf alles sein. Es geht mir aber um Grundsätzlicheres. Es tut unserer Seele gut, wenn wir uns im Alltag nicht nur von äusseren Eindrücken und egozentrischen Erwartungen beherrschen lassen, sondern immer wieder neu auf unser Herz hören. Dann verlassen wir die berechnende Beobachterposition des Ichs und öffnen uns wie Blaise Pascal sagte «der Vernunft des Herzens», der Seele. Diese Vernunft schafft ein Gegengewicht. Um es etwas salopp zu sagen: «Je mehr Hightech wir haben, desto mehr Hightouch (inneres Berührtsein) brauchen wir.» Das lehren mich viele meiner Patienten, die an Burnout, Depressionen oder Persönlichkeitsproblemen leiden. Sie laufen Gefahr, im erfolgsgetriebenen Hamsterrad der Arbeit seelisch verloren zu gehen oder im ruhelosen Multitasking aufgerieben zu werden und sich selbst nicht mehr zu spüren. Burnout und Depression wirken dann wie ein Bremsmanöver des beseelten Körpers.

Sie haben sich mit den Wüstenvätern auseinandergesetzt und festgestellt, dass sich diese durch den Aufenthalt in der Wüste selber von ihren Ängsten und Depressionen geheilt haben. Wie geschah dies? Was können wir daraus lernen?
Die Wüstenväter und mütter haben unter extremen Wüstenbedingungen in längst vergangenen Zeiten gelebt. Deshalb mag es erstaunen, dass manche ihrer Erkenntnisse, die sie aus eigenem depressiven Leiden gewonnen haben, von der modernen Psychotherapie neu entdeckt wurden. So nahm beispielsweise Abbas Evagrius die kognitive Psychotherapie insofern voraus, als er erkannte, dass negative Gedanken einen Menschen herabstimmen und es hilfreich sein kann, diesen negativen Einflüssen systematisch neutrale oder positive Worte und Gedanken entgegen zu stellen. Wie 1500 Jahre später Sigmund Freud hat bereits Abbas Evagrius erkannt, dass die Enttäuschung eigener Erwartungen Ärger auslöst und sich dieser Ärger gegen den enttäuschten Menschen selber richten kann. Im Wissen darum hat Evagrius versucht, die aufkommende Wut zuzulassen, sie aber auf das Böse in der Welt auszurichten.

Wie können wir lernen, auf unsere Seele zu hören?
Einer der Wüstenväter hat auf eine ähnliche Frage geantwortet: «Wo du dich wohl fühlst, da lass dich nieder.» Ein anderer: «Verlass deine Zelle (dein stilles Plätzchen) nicht; sie wird dich alles lehren.» Wie die Wüstenväter bin ich überzeugt, dass verschiedene Menschen auch verschiedene Antworten brauchen. Manchmal gilt es, Ballast abzuwerfen, um überhaupt auf die verschüttete Seele zu stossen. Manchmal hilft die Zuwendung eines beseelten Menschen oder die Vertiefung in Kunst, Musik und Religion. Oft ist Einsamkeit und Stille hilfreich.

Lautet das Stichwort für ein zufriedenes Leben «Spiritualität»?
Ich glaube, dass Spiritualität nicht instrumentalisiert, das heisst für einen Zweck benützt werden sollte, auch nicht für ein zufriedenes Leben. Spiritualität verfolgt keine egozentrischen Ziele, sondern öffnet sich dem Umfassenden. Man kann zwar Meditationsmethoden erlernen, um sich zu entspannen und den Stress abzufedern. Das kann auch Depressionen vorbeugen. Spirituell würde ich dies trotzdem nicht nennen. Leiden und Spiritualität sind keine Gegensätze. Gerade christliche Spiritualität kennt das Leiden und die dunkle Nacht.

Wie gelingt es, ein gelungenes Leben zu führen?
Diese grosse Frage zielt auf das Ganzsein oder das Heilsein eines Menschen. Ich kann sie Ihnen als Seelenarzt nicht beantworten. Dazu bräuchte es noch eine andere Dimension als diejenige eines Arztes, der Leiden mit säkularen Mitteln behandelt.

Zum Schluss: Bereuen Sie etwas in Ihrem Leben?
Ja, manches, aber das behalte ich für mich.



Daniel Hell ist Professor für Psychiatrie und war bis 2009 Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Er setzte sich wissenschaftlich vor allem mit Depressionen auseinander.

Barbara Helg / Tilmann Zuber

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