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Seit 23 Jahren auf dem Weg ins «Neuland»

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01.01.2016
Christian Zingg ist Lehrer jener Integrationsklasse, deren Geschichte im Film «Neuland» erzählt wird. Fast vergessen Geglaubtes trage zur Integration bei: Respekt, Demut und das Gebet, sagt Christian Zingg.

«Der Film berührt mich selbst, je öfter ich ihn sehe. Als ich ihn im Kino in Solothurn sah, musste ich weinen», erzählt Christian Zingg. Angesprochen ist der Dokumentarfilm «Neuland», der während zweier Jahre den Weg einer Basler Integrationsklasse mitverfolgt. Klassenlehrer ist Christian Zingg, der seit 23 Jahren an den Brückenangeboten unterrichtet und dort seine Lebensaufgabe gefunden hat. Eine Aufgabe fürs Leben von Migranten im Jugendalter, damit diese in der Schweiz dem Neuland eine Zukunft aufbauen können.
«Damit dies möglich wird, müssen die Jugendlichen zuerst mit ihrer Vergangenheit klarkommen, den Trennungsschmerz überwinden, den Abschied verarbeiten oder traumatische Erlebnisse verschmerzen», sagt Christian Zingg, «und die Sprache finden.» Die Worte, um das Erlebte zu beschreiben und die deutsche Sprache, damit sie ihre Geschichte erzählen können. Das brauche ein halbes bis ein ganzes Jahr, hält Zingg fest. Dann ist eine Vertrauensbasis aufgebaut, die auf gegenseitigem Respekt beruht. «Ich bin voller Geschichten», sagt der Klassenlehrer, «die mich zwar berühren, aber nicht überwältigen, weil es nicht meine eigenen Geschichten sind.» Für die Migranten ist dieser Prozess aber wichtig, um loslassen und sich Neuem öffnen zu können, so Zingg.

In die Augen zu blicken, ist anderswo eine Beleidigung
Vieles müsse im Unterricht angesprochen werden, was uns nicht bewusst sei, weil selbstverständlich, fährt Christian Zingg fort. «Wenn ich mit meinem eher ernsten Gesichtsausdruck einen Stock in die Hand nehme, um an der Karte etwas zu zeigen, dann passiert es, dass gewisse Schülerinnen und Schüler zusammenzucken. Sie befürchten, dass sie geschlagen werden, weil dies ihrer Schulerfahrung entspricht.» Auch für uns Gewohntes wird im Unterricht geübt: die Begrüssung. Christian Zingg; «Jemandem die Hand zu schütteln und in die Augen zu blicken, wird in anderen Kulturen als Beleidigung empfunden. Hier das kulturell Eingeübte abzulegen und zu ändern, braucht zuweilen viel Überwindung und Zeit.»
Die zwei Jahre in der Integrationsklasse sind für die Schülerinnen und Schüler keine einfache Zeit. Halt gibt ihnen die Solidarität unter den Mitschülern, das Vertrauen zu ihrem Lehrer und manchmal auch die Religion. «Wir erzählen uns im Unterricht, was für uns Religion bedeutet und wie wir sie leben oder nicht. Die Religion hilft vielen, schwierige Situationen durchzustehen, zum Beispiel, indem jemand für sie betet», erzählt Zingg.
Derzeit befindet sich Christian Zingg selbst im siebten Himmel. Der Film «Neuland» bewegt die Leute, die zahlreichen Reaktionen sind oft emotional. «Ich wurde schon umarmt oder Leute haben mich angesprochen und geweint. Das berührt.» Ja, Christian
Zingg ist plötzlich bekannt, wird erkannt und geniesst diesen Moment. «Ich bin sehr glücklich, dass dieser Film entstehen konnte und ich bin Anna Thommen, der Regisseurin, sehr dankbar für ihre feinfühlige Arbeit.»
Trotz der vielen Verpflichtungen, die der Film «Neuland» mit sich bringt, wird Christian Zingg nicht abheben. Dafür sorgen seine Familie sowie Fasnachts- und Zunftanlässe, die den überzeugten Basler wieder im gewohnten Alltag erden und der Unterricht mit der neuen Klasse. Die Gegensätze, die Christian Zingg gerade durchlebt, lassen in ihm ein Gefühl aufkommen, «das heute altmodisch anmutet», wie Christian Zingg es ausdrückt: «Demut». «Demut gegenüber dem Erfolg des Films. Demut aber vor allem gegenüber dem glücklichen Leben, das ich im Gegensatz zu vielen meiner Jugendlichen führen durfte.» Sie ist Voraussetzung, um mit jeder neuen Klasse wieder Neuland betreten zu können.

Franz Osswald

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