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Zwischen Inselspital und russischer Provinz

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01.01.2016
Im Tagungszentrum Leuenberg referierte der Herzspezialist Thierry Carrel über den Glauben am Operationstisch. Einmal im Jahr fliegt er nach Perm, um Herzkranke zu operieren. Auch das gehöre zu seinem Glauben.

Wenn Thierry Carrel Vorträge hält, dann strömen die Massen herbei. Der grosse Saal des Tagungszentrums Leuenberg war bis zum letzten Platz besetzt. Die Köpfe reckten sich, um einen besseren Blick auf den Berner Herzspezialisten und Politiker zu erhaschen. Doch Thierry Carrel entspricht nicht dem Bild des abgehobenen Halbgotts in Weiss. Im Gegenteil, wenn er über seine Arbeit im Inselspital oder in der russischen Stadt Perm berichtet, bleibt er selbstkritisch bescheiden. Man spürt, dass ihm die Schicksale der Patienten nahegehen. Unumwunden gibt er zu, dass er ehrgeizig sei und er sich dem Erwartungsdruck aussetze, das Sterberisiko so klein wie möglich zu halten. Im gleichen Atemzug erzählt er vom Scheitern im Operationssaal.
Vor Jahren erhielt Thierry Carrel ein Schreiben von Pfarrer Daniel Meichtry. Der Gründer und Geschäftsführer von «Vision Ost» bat den Chirurgen um Hilfe für die Arbeit in Russland. Der Herzspezialist sagte zu. Seit Jahren fliegt Thierry Carrell mit einer Crew regelmässig ins russische Perm. Die Millionenmetropole im Vorland des Urals war bis ins Jahr 2000 Sperrgebiet. Armut und Elend prägen den Alltag der Bevölkerung. Viele leiden unter Alkoholismus, Aids und Tuberkulose. Die Zustände, die Thierry Carrel in den Spitälern antraf und immer noch antrifft, sind erschreckend. «Korruption beherrscht das Gesundheitswesen in Russland», erzählt Carrel. «Wenn die Politiker wegschauen, dann müssen wir erst recht hinschauen», fordert er.
Das Spital in Perm ist die einzige Klinik, die sich um Herzpatienten in der Provinz kümmert. Gegründet hatte sie Sergei Sukhanov. Der Allgemeinpraktiker hatte sich autodidaktisch zum Herzchirurgen ausgebildet. Ziel von Carrels Besuchen ist es deshalb auch, die dortigen Ärzte weiterzubilden. 25 000 Patienten aus der Region warten auf eine Herzoperation. Die allermeisten kann die Schweizer Crew in dieser Woche nicht operieren. «Für viele bedeutet das ihr Todesurteil», sagt Thierry Carrel. Bei seinen Besuchen hat er medizinisches Material für 1,5 Millionen Franken nach Russland geschafft.

Verantwortung übernehmen
«Es ist reiner Zufall, ob du in Perm oder in Basel auf die Welt kommst. Entsprechend sieht das Leben anders aus und man ist aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen», sagt Thierry Carrel. Wer in der Bibel lese, werde aufgefordert, solidarisch zu sein und etwas für die Ärmsten zu tun, meint der Herzchirurg. Der Glaube gebe ihm Halt, erzählt er. Es sei nicht einfach, dies anderen zu vermitteln. Man könne nicht alles im Leben erklären, meint er. Vieles bleibe offen. Bei ihm verbinde sich der Glaube mit dem Staunen und der Bewunderung, wenn er sehe, wie geradezu primitiv ein Kunstherz neben dem menschlichen Herzen sei.
Über solche Themen unterhielten sich die Mediziner ansonsten kaum. Im Gegensatz zu den Patienten. Wenn Thierry Carrel die Herzkranken am Vorabend der schweren Operationen besucht, wird das Gespräch über das eigene Leben, die Familie und die Arbeit persönlich und tief.
Klar weiss Thierry Carrel, dass seine Hilfe nur «einen kleinen Tropfen im Meer» darstellt. Für die Betroffenen jedoch ist dieser Tropfen überlebenswichtig. «Es gibt mir Kraft, wenn ich sehe, wie die Betroffenen nachher glücklich sind», erzählt Thierry Carrel. Deshalb wird er zusammen mit seiner Crew auch nächstes Jahr die zehnstündige Reise in den Osten Russlands antreten. «Wer die Augen der Kinder in Perm gesehen hat, der wird sie nicht mehr vergessen. Sie lassen einen nicht mehr los.»

Tilmann Zuber

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