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«Ein christliches Abendland gab es nie»

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01.01.2016
In Deutschland demonstriert die Bewegung der Pegida gegen die «Islamisierung des Abendlandes». Doch der Begriff ist ein Mythos, meint der Historiker Wolfgang Benz.

Herr Benz, was meint eigentlich der Begriff Abendland?
Das ist ein ganz weiter Begriff, da lässt sich beliebig viel eintüten. Das Abendland ist ein Mythos, der im 17. und 18. Jahrhundert Hochkonjunktur hatte: Er steht für eine Wertegemeinschaft, die griechisch-römische Philosophie mit christlichem Denken verbindet und den Eindruck erweckt, als habe sich die Antike im Christentum vollendet. Dabei ist der Begriff immer als Kampf- oder Ausgrenzungsbegriff verwendet worden.

Gegen wen?
Zunächst bezeichnete das Abendland die lateinische Christenheit, die sich gegen die orthodoxe Kirche abgrenzte. Rom gegen Konstantinopel. Als dann 1453 Konstantinopel durch die Türken erobert wurde, wurde das christliche Abendland zum Kampfbegriff des christlichen Europa gegen die türkischen, muslimischen Angreifer. In Wirklichkeit hat es so etwas wie ein einheitliches christliches Abendland aber nie gegeben. Man schaue nur darauf, dass die muslimischen Türken im 17. Jahrhundert von den katholischen Franzosen im Kampf gegen die katholischen Habsburger unterstützt wurden. Machtdenken spielte eine viel grössere Rolle als die Religion.

Dennoch wird der Begriff weiterhin gegen den Islam ins Feld geführt.
Dass die Freiheitliche Partei Österreichs FPÖ noch 2009 mit der Parole «Abendland in Christenhand» in die Europawahlen ging, zeigt, wie tief diese Definition sitzt und wie sehr die jahrhundertealte Angst vor den muslimischen Eroberern auch heute noch mobilisiert werden kann.

Das Abendland spielte auch in der europäischen Bewegung nach 1945 eine grosse Rolle.
Tatsächlich hatte der Begriff Abendland seit den 50er-Jahren eine Wiedergeburt. Das freiheitliche Europa berief sich auf christliche Werte, um sich vom Ostblock abzugrenzen. Nationalkonservative und Katholiken bis zu Konrad Adenauer sprachen vom christlichen Abendland, in das dann auch die USA einbezogen wurden. Karl der Grosse wurde zum Gründungsvater Europas und des christlichen Abendlandes stilisiert. Seitdem allerdings hat der Begriff ganz stark an Bedeutung verloren bis ihn Pegida wieder aufgriff.

Die Rede war allerdings immer von christlich-jüdischen Werten.
Das zeigt ja, wie inhaltsleer und dehnbar der Begriff Abendland immer war: Lange richtete er sich auch gegen die Juden, doch in jüngster Zeit wurde nachdem Millionen Juden ermordet wurden die jüdische Religion einbezogen, wenn es um die Abgrenzung gegen Muslime geht. Auch heute beschwören viele Demonstranten bei den Pegida-Veranstaltungen die christlich-jüdischen Werte des Abendlandes. Wenn es um Muslime geht, sind Verbündete gerade recht.



Wolfgang Benz: Der deutsche Historiker machte sich einen Namen in der Antisemitismusforschung. Er lehrte bis 2011 an der Technischen Universität Berlin.

Silvia Stam, kipa

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