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«Zwingli ist der wichtigste Beitrag der Schweiz zur Weltgeschichte»

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01.01.2016
Die Reformation wirkte in der Schweiz nicht nur glaubenserneuernd, sondern vor allem auch lähmend und stabilisierend. Im Interview mit Matthias Böhni erläutert der Historiker Thomas Maissen die Auswirkungen der Reformation auf die Schweiz und was er von der heutigen reformierten Kirche denkt.

Herr Maissen, in Ihrem Buch «Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt» spielt die Reformation eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Schweiz. Warum?
Drei Konfliktlinien haben die Eidgenossenschaft um die Reformationszeit geprägt: die Geographie der Kantone - Bern orientierte sich nach Westen, Zürich nach Osten, die Innerschweizer nach Süden. Dann der Stadt/Land-Gegensatz und schliesslich der konfessionelle Gegensatz. Letzterer verhinderte seit den 1520er Jahren, dass die Eidgenossenschaft als Ganzes mit ausländischen Mächten Expansionsbündnisse einging. Die europäischen Allianzen folgten fast überall den konfessionellen Loyalitäten. Eine gemeinsame Aussenpolitik war unmöglich geworden.

Die Reformation hat also weniger als «Renaissance» für den «wahren Glauben» gewirkt, sondern vielmehr lähmend-stabilisierend für das fragile Gebilde Eidgenossenschaft?
Ja, was die Eidgenossenschaft insgesamt betrifft. Lähmend aussenpolitisch und dadurch stablisierend innenpolitisch. Das schliesst die konfessionelle Binnendeutung als «Renaissance» zumindest in den reformierten Kantonen aber nicht aus. Die Reformation führte zu einer Pattsituation. Das Resultat war ein ambitionsloses Durchwursteln. Es fehlte der Schiedsrichter, etwa ein König wie in anderen Ländern, der eine Richtung hätte vorgeben können. Der einzige gemeinsame Nenner war die konfessionell übergreifende Verwaltung der gemeinen Herrschaften. Das war durchaus eine Leistung. Man erhielt den Status Quo, hatte aber keine Ambitionen auf Neues.

Wäre die Schweiz in den verheerenden Dreissigjährigen Krieg gezogen worden, wenn sich Reformierte und Katholiken nicht gegenseitig blockiert hätten?
Sehr wahrscheinlich. Das wäre schon in früheren Kriegen möglich gewesen, vor allem im Schmalkaldischen Krieg von 1546/47, als man sich solidarisch mit den Protestanten - beziehungsweise Katholiken - im Ausland hätte zeigen sollen. Vor allem die reformierten Pfarrer forderten hier Solidarität. Aber die Politik hat die Religion gebremst und pragmatisch gehandelt.

Welche Rolle spielten die Reformatoren Zwingli, Bullinger und Vadian bei der Ausbildung einer Schweizer Geschichtsschreibung?
Zwingli war kein Geschichtsschreiber, Vadian und Bullinger dagegen schon. Beim St. Galler Stadtbürger Vadian ergab sich dies auch aus dem Kampf gegen die Herrschaft der St. Galler Äbte. Alle drei wollten die gesamte Eidgenossenschaft reformieren und dies mit der schweizerischen Tradition begründen.

Aber nach Zwinglis Niederlage bei Kappel war das zumindest kriegerisch nicht mehr möglich?
Ja, dann erschienen der innere und äussere Friede als notwendig für den Fortbestand der Reformation. Dass die Innerschweizer stets ein schwieriges Verhältnis zu Österreich und dem habsburgischen und katholischen Kaiser hatten, bildete eine gemeinsame Basis. Das schmälerte die Gefahr einer Gegenreformation mit ausländischer Hilfe. Die Innerschweizer blieben gespalten: Es gab die Anhänger des habsburgischen Spanien, und auf der anderen Seite die Frankreichpartei. Auch hier gab es also mehr als nur eine konfessionelle Frontlinie. Das wirkte konflikthemmend.

Es gab eine Zusammenarbeit zwischen den Reformatoren und dem katholischen Historiker Aegidius Tschudi. War das die erste funktionierende Ökumene?

Nein. Die Ökumene akzeptiert im Grunde ja die Kirchenspaltung. So weit ging es bei den Reformatoren nicht. Aber es gab ein historiographisches Gespräch zwischen Angehörigen beider Konfessionen, das aber nach dieser humanistisch gebildeten Generation abbrach. Erst im 18. Jahrhundert, in der Aufklärung, wurde es wieder aufgenommen.

War Tschudi besonders tolerant?
Nein. Tschudi war im Glarnerland für den «Tschudikrieg» verantwortlich, der das Glarnerland rekatholisieren wollte. Er war dort ein knallharter Konfessionspolitiker, der aber gleichzeitig auf eidgenössischer Ebene das Gespräch mit den Reformierten suchte, nicht zuletzt gegen Habsburg. Die Heilsfrage wurde aber von ihm nicht relativiert. Er konnte einfach zwischen Religion und Politik unterscheiden. Staatpolitische Logik war bei ihm nicht dasselbe wie konfessionelle Logik.

Zwingli und Napoleon haben die Schweiz in der Neuzeit am meisten geprägt. Einverstanden?
Ja, soweit man das an Personen festmachen kann und will. Napoleon kommt aber zuerst, weil er die förderalistische Struktur mit gleichberechtigten Kantonen und Bürgern eingeführt hat.

Aber Zwingli war die wohl wichtigste Schweizer Figur der Neuzeit?
Er ist der wichtigste Beitrag der Schweiz zur Weltgeschichte. Er war ein humanistischer Denker, hatte eine religiöse Vision, eine Überzeugung, für die er zu sterben bereit war. Kein anderer Reformator ist auf dem Schlachtfeld gefallen. Die anderen Reformatoren wirkten in ihren Kirchenstuben. Die Schweizer Reformation wurde zuerst von Zürich aus und erst später von Calvins Genf aus zu einem weltweit erfolgreichen Exportprodukt.

Sie beschreiben die «Kappeler Milchsuppe» von 1529, die reformierte und katholische Truppen gegessen haben sollen, als lange weiterwirkendes Bild der Einigkeit. Die Milchsuppe hat es aber vermutlich so nicht gegeben. Ist sie nicht genau wie die Tell-Erzählung, die Sie in Ihrem Buch dekonstruieren, vor allem ein Mythos?
Sie ist ein Bild für die Versöhnung, erstmals erwähnt vom Zeitgenossen Heinrich Bullinger. Belegt sind auch Verbrüderungsszenen zwischen Reformierten und Katholiken während des Ersten Kappeler Krieges 1529. Es kann sein, dass Bullinger die Suppe erfunden hat. Im Unterschied zum Tell-Mythos ist die Wahrscheinlichkeit aber eher gering. Warum hätte Bullinger das tun sollen? Er war Anführer der Schweizer Reformierten und kein pazifistischer Vorkämpfer.

Sie kritisieren gewieft politisch instrumentalisierte Geschichtsmythen. Wird die Reformation heute selber als Mythos instrumentalisiert, zum Beispiel von Roger Köppel oder von Pfarrerssohn Christoph Blocher?
Die Gefahr besteht immer. Die SVP wird sich aber hüten, ein solches Narrativ zu benutzen. Sie hat in der Innerschweiz das Erbe des rechten Flügels der CVP angetreten, der mit wehenden Fahen zur SVP übergelaufen ist. Die SVP ist ja in ihrer Entstehung eine klar reformierte Partei. Das wäre Selbstmord, hier das Hohelied der Reformierten zu singen. Die konfessionelle Deutungsschiene spielt für die nationalgeschichtliche Interpretationen ohnehin keine grosse Rolle.

Wie halten Sie es selber heute mit den Reformierten?
Meine Mutter ist lutheranische Finnin, mein Vater Katholik, ich bin Lutheraner. Meine konfessionelle Schulbildung ist schweizerisch-reformiert. Die reformierten Kirchen erlebe ich heute als orientierungslos. Es ist ein Dilemma: Eine Kirche muss wohl ein klares Profil zeigen, auf die Gefahr hin, unbequem zu sein. Zugleich haben die Reformierten schon länger versucht, ihren Glauben mit der modernen Rationalität in Übereinstimmung zu bringen. Als reformierter «Papst» wüsste ich auch nicht, wie man dieses Dilemma löst. Von meiner persönlichen Hintergrund her würde ich, wie viele Pfarrer das ja tun, auch einen «Kuschelkurs» fahren, was nicht abwertend gemeint ist. Aber er enttäuscht diejenigen, die klare religiöse Orientierung wünschen.

Lieber ein scharfes Profil als gar keines?
Für eine Kirche auf der Suche nach Anhängern: Ja. Scharfe Profile sind dankbarer, rationale Positionen haben es unter Gläubigen schwerer. Die Reformierten sind städtisch geprägt, die Auseinandersetzung mit der Moderne und die darauf folgende Säkularisierung setzte früher und stärker ein als bei den Katholiken. Aber die reformierte Kirche war nicht immer rational: Im 17. und 18. Jahrhundert wetterten reformierte Pfarrer gegen die kopernikanische Wende und waren für die Hexenverbrennung. Wir müssen uns zudem hüten, allzu helveto- oder eurozentrisch zu denken. In den USA oder Südkorea gibt es starke reformierte Bewegungen.

Bald feiern wir 500 Jahre Reformation. Was würden Sie als Festredner bei einer 500-Jahr-Feier sagen?
Ich würde darüber nachdenken, wie die Kraft des Religiösen mobilisiert und wie dominant Heils- und Wahrheitsfragen werden können. Sich für den «wahren» Glauben zu entscheiden hat befreiendes und destruktives Potenzial. Die Reformierten warfen die Bilder aus den Kirchen. Das erinnert an die Jihadisten, die heute im Irak Kulturdenkmäler zerstören. Bei uns ist das in gewisser Hinsicht ähnlich abgelaufen. Zugleich ist das Religiöse eine befreiende Kraft: Man ist bereit, Weltliches zu opfern, etwa Reichtum aufzugeben, und Wesentlicheres zu entdecken als die Betriebsamkeit im Diesseits.


Zur Person
Thomas Maissen ist Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris. Maissen hat in Basel, Rom und Paris studiert und zahlreiche Publikationen verfasst, unter anderem zur Schweizer Geschichte. Er war von 2004 bis 2013 Professor in Heidelberg und ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Sein Buch «Schweizer Heldengeschichten und was dahintersteckt» ist 2015 im Verlag «Hier und Jetzt» erschienen.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Zum Bild: Wahrscheinlich kein Mythos: die legendäre «Kappeler Milchsuppe» zwischen reformierten und katholischen Truppen (Gemälde von Albert Anker um 1869).
public domain

Interview: Matthias Böhni / ref.ch

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