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Sag Danke! Plädoyer für eine vernachlässigte Tugend

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01.01.2016
In den Herbst fallen das Erntedankfest und der Dank-, Buss- und Bettag. Immer weniger Leute können diesen Anlässen etwas abgewinnen. Doch warum eigentlich? Ist Dankbarkeit heute kein Thema mehr?

Wie oft sich Stefan Moser am Tag bedankt, weiss er nicht genau. «Ich habe das noch nie so genau gezählt», sagt der Zugbegleiter. «Aber ein paar Hundert Male dürften es schon sein.» Trotzdem sind für ihn «Danke», «Dankeschön» und «Merci» keine Formeln, die er routinemässig vor sich hermurmelt. Moser versucht «ehrlich gemeint» zu danken, wie er betont. Manchmal ohne Worte, mit einem Lächeln und Augenkontakt.
Der Zugbegleiter ist jedoch ein Sonderfall. Dankbarkeit gehört heute zu den Tugenden, die stiefmütterlich behandelt werden. Bei vielen klingt beim Danken noch der vorwurfsvolle Ton der Mahnung der Eltern «Häsch schön Danke gseit?» mit. Natürlich hatte man nicht, und warum sollte man auch?
In der Antike hatte die Dankbarkeit einen grossen Stellenwert. Laut Cicero ist Dankbarkeit «nicht nur eine der grössten Tugenden, sondern die Mutter aller andern». Auch im Juden- und Christentum nimmt der Dank einen breiten Raum ein und zieht sich wie ein roter Faden durch das Alte und Neue Testament. Dankbarkeit ist die Antwort des Gläubigen auf Gott, der das Leben schenkt und einen begleitet. Zahlreiche Psalmen stimmen ein Lobpreis an. Und Jesus selbst dankt etwa bei der Speisung der 5000 für den Fisch und das Brot. Die Dankbarkeit bildet die Grundhaltung des christlichen Lebens. Gerade aus dem Dank für die Schöpfung, das Leben und die Gnade sind Christen aufgerufen, sich solidarisch in der Gesellschaft zu engagieren.
Wie sehr Danken mit Denken und Gedenken verflochten ist, zeigt sich im Gebet. In einem Moment der Ruhe und Stille hält man Rückblick und wird sich bewusst, was der Tag alles Gutes gebracht hat.
Über Jahrtausende war den Menschen bewusst, wie zerbrechlich das Leben ist. Kriege, Katastrophen und Seuchen bedrohten ihre Existenz. Von einem Moment auf den nächsten konnte es abrupt enden. Dank-, Buss- und Bettage sowie Erntedankfeste hatten in der Vergangenheit eine grös­sere Bedeutung als heute.

Zu selbstverständlich
Durch die Selbstverständlichkeit, mit der die moderne Gesellschaft lebt und konsumiert, gerät die Dankbarkeit in den Hintergrund. Risiken, Gebrechen und Krankheiten werden versichert. Und fällt die Ernte wegen Hitze oder Überschwemmungen aus, so importiert man die Produkte aus einem anderen Land. Warum da noch danken, meint der Homo Faber.
In seinem zweiten Tagebuch fragt der Schriftsteller Max Frisch, warum es nicht eine Instanz gibt, die jährlich eine Liste der Dankbarkeiten einfordert. Der Schriftsteller forderte die Errichtung einer eigenen Instanz, die einen ohne pädagogischen Zwang von innen heraus daran erinnert, Danke zu sagen. Frisch selbst erstellte dann eine solche Liste, in der er seiner Mutter und seinem Gönner, der ihm zum Studium verholfen hatte, dankte. Dankbar erinnert er sich an die Armut in seiner Kindheit und die Frauen, die er liebte, und an seine Kinder. Ohne diesen Dank bliebe der Alltag grau in grau und das Schöne im Leben würde nicht genügend gewürdigt und geschmeckt, meinte Frisch. Dankbarkeit sei das Gedächtnis des Herzens, schrieb der Theologe und Bischof Jean-Baptiste Massillon im 17. Jahrhundert dazu.
Auch die Psychologie bestätigt den Wert der Dankbarkeit. Neuere Studien zeigen, dass sich dankbare Menschen subjektiv besser fühlen, glücklicher sind, weniger unter Stress leiden und zufriedener mit ihrem Leben und ihren Beziehungen sind. Dankbarkeit macht kreativ: Gemäss Untersuchungen gelingt es dankbaren Menschen besser, mit schwierigen Situationen und Problemen umzugehen.

Gut für das eigene Glück
Eindrücklich bestätigen die Arbeiten des amerikanischen Psychologen Martin Seligman, wie sich Dankbarkeit kurz- und langfristig auf das Leben auswirkt. In einer breiten Studie wurden verschiedene Interventionsmöglichkeiten getestet. Unter anderem erhielten die Teilnehmenden die Aufgabe, einem Bekannten einen Dankesbrief zu schreiben und diesen zu überbringen.
Kurzfristig ergab dies eine zehnprozentige Erhöhung in der Skala der Glücklichkeit. «Dankbarkeitsbücher», in welche die Teilnehmenden täglich drei Einträge schrieben, steigerten und verlängerten diese Wirkung.

Die Liste der Dankbarkeit führte zu einer anderen Perspektive auf das Leben.
Stefan Moser ist überzeugt, dass die Freundlichkeit auf die Fahrgäste wirkt, nicht bei allen und nicht in jeder Situation. Mit der Zeit merke man, welche Leute Humor haben und welche lieber in Ruhe gelassen werden.
Regelmässig betreut der Zugbegleiter die Fahrt des TGV zwischen Basel und Paris. Die Franzosen hätten mehr Anstand und seien in der Regel freundlicher, stellt er immer wieder fest. Moser führt dies darauf zurück, dass die Franzosen seltener Zug fahren als die Schweizer. Zugfahren sei für sie etwas Besonderes. Für Deutschschweizer gehöre die Bahn zum Alltag. «Sie sind sich gar nicht bewusst, wie dankbar sie sein könnten, dass in der Regel alles ziemlich gut funktioniert, meint Stefan Moser.

Tilmann Zuber / Michael Schäppi

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