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«Was morgen ist, weiss nur Gott»

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01.01.2016
Begegnungen in der Ausschaffungshaft in der Ostschweiz: Asylsuchende mit negativem Entscheid warten auf ihre Abschiebung. An einem Ort zwischen allen Ländern hoffen sie auch in der Adventszeit auf eine Zukunft, die nicht kommt.

So fühlt er sich also an, dieser Ort zwischen Inland und Ausland: Kühl, obwohl beheizt, dunkel, obschon beleuchtet, einsam, obwohl hier Menschen leben. Die winzigen Fenster in den eng aneinander gereihten Zweierzellen erlauben keinen Blick nach aussen, Milchglas und Gitter sind davor. Selbst der kleine Spazierhof im Freien ist von Mauern umschlossen. Darüber ein massives Stahlgitter, wie ein Käfig. Schwer auszuhalten, obwohl alles korrekt ist.

Jussa* lebt hier, vorübergehend, unterwegs, wie immer in den letzten sieben Jahren. Mit 18 hat er sein Zuhause verloren. Ständig ging es weiter, zog er weiter, musste er weiter. Er erinnert sich stockend. Aus einem Dorf im Norden Nigerias stammt der Mittzwanziger, Provinz Bauchi, wo seit 2001 die Scharia in Kraft ist. Einer Pfingstkirche gehörte er an, feierte enthusiastische Gottesdienste als Jugendlicher. Bis der Terror von Boko Haram wütete. Es gab Tote. Auch in seiner Familie. «Wie konnte ich dort noch leben?»

Illegaler Höllentrip

Er machte sich auf den Weg nach Norden, erreichte Agadez im Niger, das legendäre Nadelöhr für schwarzafrikanische Migranten auf dem Weg nach Europa. Hier schlug er sich ein Jahr lang als Lastenträger auf Märkten durch. Dann hatte er die 300 Franken beisammen für die fast 2000 Kilometer lange Passage durch die Wüste, Fahrpreis, nötige Schmiergelder, illegale Strassengebühren.

Es war ein Höllentrip auf dem offenen Pritschenwagen. Nur wer sich mit Stöcken sichert, kann hoffen, nicht runter zu fallen. Wer genügend Wasser dabei hat, darf hoffen, nicht zu verdursten. Nach vier Tagen in der Sahara war die Tortur vorbei und Sabha hinter der libyschen Grenze erreicht. Nach zwei Jahren in Tripolis brachten die Wirren des libyschen Bürgerkrieges erneut Chaos. Jussa sagt nichts zur Überfahrt durchs Mittelmeer. Nur dies: «Ich habe überlebt».

Endlosschlaufe durch Europa
In Italien wurde er als Asylbewerber registriert. Mehr nicht. Er hielt sich als Tagelöhner über Wasser, lebte in einem Haus ohne Heizung. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, reiste nach Mailand, schliesslich nach Chiasso. Ein Dublinfall. Juristisch ist Jussas Fall klar: Wer in einem sicheren Land registriert ist, dessen Asylantrag muss dort entschieden werden. Europaweit werden Migranten darum in Erstaufnahme-Länder zurückgeschickt, im Glauben, dort laufe ein Asylverfahren. Humanrights-Watch kritisiert, dass so Tausende in einer Endlosschleife zwischen den Ländern zirkulieren.

Auch Jussa reiste schon freiwillig zurück nach Italien, fand aber keine Dienststelle, die sein Asylgesuch ernsthaft behandelte. So fuhr er wieder nach Norden. Das ist illegal. Natürlich. Jussa widerspricht nicht. Übermorgen gehts jetzt offiziell retour nach Mailand. Der Flug ist gebucht, 12.25 Uhr ab Zürich, Zielflughafen MLX. Was in Malpensa auf ihn wartet, steht in den Sternen. «Das Problem ist, dass sich Menschen nicht in Luft auflösen», sagt er. Jussa ist ein frommer Mensch. Er trägt ein Kreuz am Halsband. Auf dem Tisch liegt seine Bibel. «Sorge Dich nur um den heutigen Tag», zitiert er die Bergpredigt. Was morgen sei, wisse nur Gott.

Diepoldsau statt Mali
Neben Jussa wartet auch Mahmud aus Afghanistan an diesem nüchternen Transitort, eine junge Eriträerin und Osman aus Algerien. Und noch vier weitere. Jeder hat seine eigene Geschichte voll von Träumen und Traumata, manchmal auch Straftaten. Mahmud kann sich im Gespräch kaum kontrollieren, wirkt angetrieben, übererregt, aggressiv, wie die Kehrseite der tödlichen Langeweile hier, der Untätigkeit, des Fatalismus in diesen endlosen Wochen vor dem Flug ohne sinnvolles Ziel.

Denn zurück ins Heimatland gehts keineswegs für alle. Ridan aus Mali möchte eigentlich in die Heimat zurück, weil er die Odyssee satt hat. Doch es gibt kein Rücknahmeabkommen. So wird Ridan nächstens nach Diepoldsau im St. Galler Rheintal verbracht, wo er einst einreiste, zur Rücküberstellung an die Behörden von Österreich.

«Kinder Gottes»
Bei Jussa findet sich ein Spruch an der Wand. «God, please help me». Bei Ridan liegt ein Koran auf dem Bett, bei Osman ein Gebetsbuch. Einige Bewohner bleiben stumm. Sie schauen den Besucher mit weiten Augen an, sagen kein Wort. In einer Zelle sitzt ein Iraner am Tisch und liest in der Bibel. Sein libanesischer Mitbewohner hat sich im Bett verkrochen. Plötzlich richtet er sich auf und sagt: «Wir sind doch alle Kinder Gottes». Dann dreht er sich wieder weg.

* Die Namen und Orte sind zum Persönlichkeitsschutz anonymisiert.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Administrativhaft kantonal geregelt

Kantonale Migrationsämter können Ausländer in Administrativhaft nehmen, wenn sie illegal im Land sind und sich weigern, in ihr Heimatland auszureisen, auch ohne Straftat. Voraussetzung ist ein Rücknahmeabkommen mit dem Herkunftsland oder die Registrierung in einem Schengen-Staat. Die Betroffenen sind vom Justizvollzug räumlich getrennt, meist in eigenen Abteilungen von Gefängnissen.
Es gibt in der Schweiz rund 400 Plätze. Jährlich sind rund 4000 Menschen in Administrativhaft, rund 70 Prozent können ausgeschafft werden.

Es gibt drei Formen: Die Vorbereitungshaft dient dazu, Ausländer ohne Aufenthaltsbewilligung für die Dauer des Entscheidverfahrens festzuhalten. Die Ausschaffungshaft dient der Sicherstellung des Vollzugs eines Ausweisungsentscheids. Die Durchsetzungshaft dient zur Durchsetzung der Ausreise. Die Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft dürfen zusammen die maximale Haftdauer von 18 Monaten nicht überschreiten.

Kritiker wie der Fachverein Gefängnisforschung bemängeln, dass die Haftkosten jene Beträge weit überschritten, die für die Integration anfallen würden. Allein dem Kanton St. Gallen erstattete der Bund 2008 rund 1.2 Millionen Franken für die Inhaftierung abgewiesener Asylbewerber. Auch die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates hat den Nutzen in Frage gestellt, namentlich wegen des «Kontrollverlusts durch die föderalistische Vollzugspolitik». Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter kritisiert das Fehlen von Privatsphäre und mangelnde Sozialkontakte. Sie empfiehlt mehr Sozialarbeit und psychiatrische Betreuung.
Die Kirchen sind durch die Gefängnisseelsorge aktiv an den Orten am Rande der Gesellschaft engagiert. Ihre Gesprächsangebote bilden oft den einzigen Aussenkontakt für die Insassen.


Zum Bild: Brennpunkt am Rande der Gesellschaft: Die Ausschaffungshaft ist ein Ort der Sorgen und verlorenen Träume.
Foto: Reinhold Meier

Reinhold Meier / Kirchenbote / 8. Dezember 2015

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