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«Fantasie bedeutet Freiheit»

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01.01.2016
In einem Manifest setzt sich Franz Hohler für Grosszügigkeit gegenüber Flüchtlingen ein. Wie kein anderer Schweizer Künstler und Intellektueller fordert er seit über 50 Jahren sein Publikum auf, der Welt mit Fantasie zu begegnen. Darin liege die Kraft, neue Wege zu suchen.

Herr Hohler, vor kurzem erschien Ihre Biografie. Ein untrügliches Zeichen, dass man älter geworden ist. Hat sich Ihre Sicht auf das Leben im Alter verändert?
Ja, je länger man lebt, desto mehr hat man erlebt und gesehen. Man erschrickt nicht mehr so über das Ungute in der Welt. Häufig erinnere ich mich an etwas, das ich schon erlebt habe. Im Leben gibt es Bewegungen und Gegenbewegungen. Wenn eine eidgenössische Wahl zu einem Rechtsrutsch führt, da erschrecke ich nicht. Denn das nächste Mal gibt es einen Linksrutsch. Das sagt mir meine Lebenserfahrung.

Sind Sie der gleiche Kämpfer wie vor vierzig Jahren?
Zurzeit wird mir vorgerechnet, dass ich mein 50-jähriges Bühnenjubiläum feiere. Das Fernsehen strahlte zwei kleine Rückblicke aus, bei denen man das Gefühl bekam, ich sei dauernd auf den Barrikaden gestanden. Das stimmte schon damals nicht. Der Protest ist durchaus ein Teil von mir, aber nicht der einzige. Ich melde mich gern von Zeit zu Zeit zu Wort, aber nicht als professioneller Kämpfer und Aktivist.

Was ist das Wichtigste im Leben?
Die Freude.

Gibt es etwas im Leben, das Sie bereuen?
Nein. Oft sind es gerade die Fehler, die einen weiterbringen.

Sie bezeichnen sich als Agnostiker. Trotzdem haben Sie in einer Predigt einmal erzählt, dass Sie an die Kraft glauben, die im Gebet liegt. In der Kirche zünden Sie oft eine Kerze an, für jene, die in Not sind. Geht das zusammen, Agnostiker und der Glaube an das Gebet?
Ja, ich habe einen horizontalen Glauben. Das Gebet wirkt nicht als himmlische Macht, sondern als gedankliche Kraft, die sich auf etwas richtet. Das Gebet wirkt von Mensch zu Mensch. Wenn ich für jemanden bete, dann hat dies eine Wirkung.

Sie bezeichneten einmal die Bibel als Vorratskiste, als abendländischen Mythenvorrat. Welcher Bibelvers oder welche Stelle bringt einen im Leben weiter?
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Ihr Kinderbuch «Die Nacht des Kometen» ist kürzlich erschienen. Es ist wie viele Ihrer Werke ein sprachgewaltiges Plädoyer für die Fantasie. Geht die Fantasie in der Leistungsgesellschaft vergessen?
Die Fantasie ist ein wichtiges Organ. Bei den Kindern ist es gut ausgebildet. Unter den Anforderungen der Realität bildet sich die Fantasie zurück und verliert an Bedeutung. In der Schule etwa existiert kein entsprechendes Hauptfach. Man unterschätzt die Fantasie und überlässt sie den Künstlern und Kleinkindern, die können ja basteln, malen und singen. Das ist ein Trugschluss: Fantasie ist überall gefordert, gerade in der Realität. Der Schriftsteller Franz Kafka sagte über den Ersten Weltkrieg: «Dieser Krieg ist aus einem schrecklichen Mangel an Fantasie entstanden.» Das ist ein sehr bedenkenswerter Satz. Fantasie ist die Fähigkeit, die Welt zu verändern, weil Fantasie sich immer etwas anderes vorstellt, als das, was vorhanden ist.

Kann man Fantasie üben?

Das glaube ich schon. Etwa indem man Geschichten erzählt und erfindet. Am besten gemeinsam. Der eine setzt den Anfang der Geschichte, der andere fährt fort. In einem SJW-Heftchen, das ich schrieb, fordert eines der Sprachspiele, Namen für Berge, Seen oder Pilze zu erfinden. Mit solchen ein-
fachen Spielen kann man etwas in Gang setzen.

Heute haben die meisten Kinder Zugang zum Computer. Die Software unterscheidet nur zwischen Ja und Nein, Richtig und Falsch oder Freund und Feind. Ändert sich dadurch das Denken der nächsten Generation?
Ja. Die Computerisierung wirkt sich auf unser Leben und auf das unserer Kinder aus. Der Computer macht durch all die Apps und Programme die Welt verfügbar. Man kann die Welt wegklicken und auf dem Touchscreen mit dem Finger wegwischen. Die virtuelle Welt ist nicht die Welt der Fantasie oder der Realität, sondern eine zweite, vorgegebene. Sie bewegt sich in einem strengen Korsett. Fantasie bedeutet Freiheit. Gegen die virtuelle Welt sollte man dagegenhalten, so, dass unsere Kinder den Boden nicht verlieren.

Gibt es in dieser technisierten Welt auch Raum für Poesie?
Ich glaube schon. Das sieht man an der Buchproduktion die nicht ab-, sondern ständig zunimmt. Es werden jedes Jahr mehr Bücher produziert. Das Bedürfnis nach Geschichten ist ungebrochen. Alle sehnen sich nach ihnen. Für Kinder sind Geschichten ein Grundnahrungsmittel. Das bleibt auch bei den Erwachsenen. Die Boulevardmedien präsentieren die Welt als Geschichten. Poesie oder Lyrik waren schon immer die Sache einer Minderheit. Es gibt selbst heute noch Zeitschriften, die nur Lyrik veröffentlichen. Die Poesie wird bleiben, auch gegen den Mainstream.

Zu einem anderen Thema: Vor kurzem haben Sie ein Flüchtlingsmanifest veröffentlicht, in dem Sie dazu aufrufen, das Leid und die schwierige Situation der Flüchtlinge zu sehen. Umfragen zeigen, dass viele Schweizer Angst vor der Migration haben. Wie kann man dem begegnen?
Indem man versucht, mit den Asylbewerbern in Kontakt zu kommen. Vor kurzem hat das Flüchtlingshilfswerk dazu aufgerufen, dass die Leute, die über genügend Platz verfügen, Flüchtlinge aufnehmen sollen. Die Migrationsämter sind keine Freunde von solchen Aktionen. Letzthin erzählten mir Bekannte, sie hätten ihr Haus, nachdem die Kinder ausgeflogen waren, neu so konzipiert, dass es einen abgetrennten Wohnteil für eine Familie gibt. Doch der Kanton lässt dies nicht gelten. Es ist unverständlich, dass der Kanton die Kontaktaufnahme zu den Asylbewerbern verhindert.

Dabei wäre dies wichtig.
Ja, es gibt zahlreiche Initiativen. Die Kirchgemeinde, in der ich lebe, organisiert Deutschkurse. Anschlies-send geht man zusammen Mittagessen. Der Opernsänger Christoph Homberger singt mit Flüchtlingen in der Offenen Kirche St. Jakob. Doch dies braucht entsprechend Geld, denn die Flüchtlinge können sich die Fahrt zu den Proben nicht leisten. Ich finde solche Initiativen gut und fantasievoll.

Überfordern uns Politiker wie Angela Merkel nicht, wenn sie für ein gastfreundliches Europa plädieren?
Das ist unbestritten. Wir sind alle von den Flüchtlingen überfordert. Die Flüchtlinge fordern uns heraus und bedrohen unseren Normalbetrieb. Das ist unser Teil an dem Krieg im Nahen Osten, den wir mittragen müssen. Jeder Krieg ist eine Überforderung, eine totale. Nicht nur für Zivilpersonen, sondern selbst für Soldaten, die ihn ausführen. Richtig, wir sind ein Stück weit überfordert, aber jede Überforderung ist eine Herausforderung, die Kräfte mobilisiert.

Sie sind guter Dinge. In Ihren Aufrufen, Auftritten und Büchern glauben Sie an die Schönheit der Schöpfung und das Gute im Menschen. Herr Hohler, sind Sie ein unerschütterlicher Optimist?
Ich bin ein optimistischer Pessimist. Ich glaube nicht, dass die Welt je ein ausgeglichenes Ganzes sein wird, sondern dass sich Wohlsein und Elend immer die Waage halten werden. Das Elend wird nie aus der Welt verschwinden. Aber dies ist der Grund, daran mitzuwirken, dass es verschwindet.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «Interkantonaler Kirchenbote», «ref.ch» und «reformiert.».


Zum Bild: Franz Hohler: «Ich bin ein optimistischer Pessimist.»
Foto: Fuchs/Kirchenbote


Die Nacht des Kometen
Eine geheimnisvolle Geschichte von Franz Hohler: Die Geschwister Mona und Jona machen in den Ferien eine ganz besondere Reise eine Zeitreise!
Die Nacht des Kometen, Franz Hohler, Kathrin Schärer, Hanser, 21.90 Franken

Tilmann Zuber, Astrid Baldinger / Kirchenbote / 7. Januar 2016

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