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«Die Probleme beginnen, wenn ich vom Jenseits Hilfe erwarte»

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01.01.2016
Jetzt ist die Zeit der Winterbräuche mit ihren Geister- und Dämonenvertreibungen. Für Pfarrer Joachim Finger sind Geister nichts Aussergewöhnliches. Er ist Beauftragter für neue religiöse Bewegungen der reformierten Kirche Kanton Schaffhausen. Es komme oft vor, dass Tote erscheinen, sagt er. Es gebe aber keinen Grund zur Aufregung.

Joachim Finger, die Frage, die sich als Erstes aufdrängt, lautet: Gibt es Geister?
Ausschliessen kann ich dies nicht, mein Wissen beschränkt sich nur auf diese Welt. Falls es Geister gibt, sind diese nicht besser, gescheiter oder schlauer, sondern nur in einem anderen Zustand.

Wie soll ich reagieren, wenn jemand berichtet, er sehe seine verstorbene Mutter?
Kommt darauf an, ob dieses Erlebnis tröstlich oder belastend ist. Solche Erscheinungen gehören zur Trauerphase. Das erleben unzählige Menschen. Mit der Zeit gibt sich das. Im Gespräch mache ich deutlich, dass dies normal ist. Damit nehme ich dem Ganzen das Gewicht und vermindere die Gefahr, dass sich das Erlebnis abspaltet und man Stimmen hört. Wird der Kontakt zu den Verstorbenen zur Belastung, sollte man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Wie oft sind Sie solchen Erzählungen begegnet?
Es kommt häufig vor, dass Tote erscheinen.

Sie erklären solche Erscheinungen als Prozess der Trauerarbeit. Beruhen sie auf Einbildung?
Ich würde es nicht Einbildung nennen. Es ist eine psychische Realität.

Da spricht der psychologisch geschulte Seelsorger. Sind Sie auch als Geistlicher gefordert?
Ja. Manchmal spreche ich ein Gebet und einen Segen und bitte die Wesenheit der verstorbenen Persönlichkeit, zu gehen, denn jetzt sei es Zeit.

Sie betreiben Exorzismus?
Nein. Exorzismus ist etwas Gröberes. Ich bete und segne. Das hilft.

In der reformierten Theologie haben Geister und spukende
Verstorbene keinen Platz.

Die klassische protestantische Lehre vom Ganztod geht davon aus, dass man erst am jüngsten Tag wieder belebt wird. Das schliesst eine jenseitige Existenz aus. Ein Teil der reformierten Kollegen ist da offener. Die Bibel geht selbstverständlich davon aus, dass es Geister, Engel und Dämonen gibt. Im Neuen Testament treibt Jesus die Dämonen aus. Natürlich interpretieren wir diese Texte heute anders und erklären diese dämonischen Kräfte mit psychischen Krankheiten.

In Afrika gehören Geister durchaus zum christlichen Glauben.
Ebenso in Südamerika, wo der Kontakt zu den Verstorbenen wichtig ist. Selbst das Essen auf den Gräbern in Osteuropa ist eine Form der Kommunikation mit den Toten.

Wir brauchen nicht so weit zu suchen: In der katholischen Innerschweiz und im Wallis glauben etliche, dass die Seele nach dem Tod noch herumwandert.
Da wäre es falsch zu behaupten, all die Leute, die daran glauben, seien gestört oder Heiden. Es gibt Menschen, die erleben dies als Realität. Es stellt sich die Frage, wie können wir diese Realität auf eine gesunde Art in unser Leben integrieren, ohne in Angst und Abhängigkeit zu leben.

Für solche Phänomene bietet die Wissenschaft ihre Erklärungen. Sie geht von Übertragungen aus: Wir projizieren unsere Vorstellungen auf das, was wir nicht erklären können.
Die Begegnung mit dem angeblichen Jenseits hängt auch von unserem Denken ab. Wir neigen dazu, neue Phänomene mit bekannten Vorstellungen zu verbinden, etwa mit jenen von Gespenstern und Geistern. Der wissenschaftliche Ansatz kann jedoch nicht alles erklären.

Was nicht?
Es gibt durchaus parapsychologische Erscheinungen. Der Spiritismus im 19. Jahrhundert begann mit Klopfgeräuschen, die man Geistern zuordnete. Heute würde man dieses Phänomen als Psychokinese bezeichnen: Psychische Spannungen entladen sich als physische Spannungen.

Jetzt wirds rätselhaft.
Die Mitarbeiter der parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg werden oft in Häuser gerufen, in denen sich Gegenstände bewegen, ohne dass jemand mitwirkt. Oftmals treffen sie dort auf pubertierende junge Frauen. Da knistert es, da entstehen Spannungen.
Diese Spannungen führen dazu, dass sich Gegenstände bewegen. Naturwissenschaftlich lässt sich das nicht erklären. Mit dem Jenseits hat dies jedenfalls nichts zu tun. Das geschieht innerweltlich.

Sie meinen, man kann mit Gedanken Materie beeinflussen?
Ja. Ein anderes Beispiel, das man naturwissenschaftlich nicht erklären kann, ist die Hellsichtigkeit. Dafür gibt es genügend Belege. Die persönlichen Tage- und Fronttagebücher des Zweiten Weltkrieges beispielsweise dokumentieren, wie die Frauen und Mütter über Tausende Kilometer hinweg spürten, was ihren Ehemännern und Söhnen an der Front passiert.

Kann dies nicht Zufall sein?
Eines der berühmtesten Beispiele für Hellsichtigkeit ist jenes von Emanuel Swedenborg. Der Gelehrte sah 1756 in Nordschweden in einer Vision das brennende Stockholm. Er konnte selbst das Quartier erkennen, wo der Brand ausbrach. Damals gab es weder einen Telegrafen noch Telefon. Offensichtlich ist unsere Psyche in Ausnahmefällen zu solchen Leistungen in der Lage.

Wir sprechen über Geisterglaube und parapsychologische Phänomene. Wo liegen die Schwierigkeiten?
Die Probleme beginnen, wenn ich vom Kontakt mit der anderen Welt Hilfe für mein chaotisches Leben erwarte. Wenn ich das Heil und die Rettung im Jenseits suche. Das birgt die Gefahr, dass ich abhängig werde. Vor allem, wenn ich mich einer Person, einem Medium, anvertraue, die den Kontakt zum Jenseits vermittelt. Dann begebe ich mich ganz in deren Hände.

In eine Abhängigkeit, die dann ausgenützt werden kann.
Das geschieht häufig.

Ist dieser Kontakt zu den Toten Scharlatanerie?
Ich wage zu behaupten, die gros­se Mehrheit hat keinen Kontakt ins Jenseits. Viele überzeugen sich permanent selber, bis sie glauben, über diese Fähigkeiten zu verfügen. Uriella, die Gründerin von Fiat Lux, war überzeugt, Botschaften von Engeln zu hören.

Das Medium spürt unsere Wünsche und Hoffnungen und setzt dies
entsprechend ein?

Oftmals nicht bewusst. Wenn ich in der Beratung ein Echo erhalte, dann entwickle ich ein Sensorium für das Gegenüber, seine Ängste, Hoffnungen und Fragen.

Das verstärkt die Gefahr, manipuliert zu werden.
Ja. Bevor man Hellseher oder Medien aufsucht, sollte man sich fragen, warum man diese Verbindung ins Jenseits braucht. Welcher Konflikt ist ungelöst? Meist hilft ein guter Seelsorger oder Therapeut besser und kostengünstiger weiter.

Brauchen wir die Geister, um unsere Verantwortung abgeben zu können?
Wir wünschen uns, dass jemand unsere Probleme löst. Gerade in unserer hochkomplexen Welt erwarten wir das Heil von draussen, von Geistern und anderen Kräften. Doch warum sollten die mehr können als wir selbst?

Gerade für Jugendliche üben Gläserrücken oder Pendeln einen grossen Reiz aus.
Das ist problematisch, denn Jugendliche neigen dazu, diesen Kontakten zum Jenseits eine Realität zuzuschreiben. Jugendliche, die nach dem Datum ihres Todes fragen, nehmen dies als Nennwert. Einzelne können nicht damit umgehen und leben jahrelang mit dem Gefühl, an diesem Todestag sterben zu müssen. Ich rate meinen Konfirmanden, sie sollten die Finger davon lassen und keine dummen Fragen, wie jene nach dem eigenen Tod, zu stellen. Gläserrücken und Pendeln haben mit dem Jenseits nichts zu tun. Sie entstehen, weil unser Unterbewusstsein und unsere Gedanken die Bewegungen beeinflussen, ohne dass wir es merken.

Nimmt der Spiritismus heutzutage zu?
Nein, Spiritismus als Weltanschauung wächst nicht mehr. Der gros­se Aufbruch fand im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts statt. Heute erzählt man jedoch ohne Hemmungen von seinen Begegnungen mit Verstorbenen und von der esoterischen Literatur im Bücherregal. Solche Themen sind nicht mehr tabuisiert.

Hellseher, Kartenleser und Astrologen haben inzwischen das Fernsehen und Internet erobert.
Das zeigt, wie viel Geld sich mit solchen Beratungen verdienen lässt. Das Angebot ist eine Reaktion auf die Verunsicherung in unserer angeblich perfekten Welt. Man sucht ständig nach Fehlern und ruft nach Spezialisten, Heilern und Medizinern. Das beginnt schon in der Schule, wo man kaum noch wagt, Fehler zu begehen. Fehler sind da, um daraus etwas zu lernen und weiterzukommen. Fehler sollte man als Chance verstehen. Aus Angst zu versagen, holen sich manche ihre Hilfe aus dem Jenseits, in der Hoffnung, dass man dort den besseren Durchblick habe.

Und werden oftmals enttäuscht.
Ja. Die meisten von uns haben normale, menschliche Probleme. Um die zu lösen, braucht es keine Geister, keine Magier und keine Horoskope. Die können wir selber meistern, ohne Gefahr zu laufen, manipuliert zu werden.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Joachim Finger
ist Pfarrer in Beringen SH. Er ist Beauftragter für neue religiöse Bewegungen der Reformierten Kirche Kanton Schaffhausen und Mitglied der Kommission «Neue religiöse Bewegungen» des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes. Die Kommission beschäftigt sich mit vor allem ausserkirchlichen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen und Gruppierungen der Gegenwart.


Zum Bild: Pfarrer Joachim Finger: «Falls es Geister gibt, sind diese nicht besser oder gescheiter, sondern nur in einem anderen Zustand.»
Foto: Tilmann Zuber

Interview: Tilmann Zuber / Kirchenbote / 1. Februar 2016

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