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«Die Christen werden die grossen Verlierer sein in Syrien»

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01.01.2016
Die Bewaffnung von Aufstän­dischen gegen die Diktaturen im Orient treibe die Menschen in die Arme der Radikalen, sagt der Fernsehjournalist Ulrich Tilgner.

Herr Tilgner, die Gewinner des arabischen Frühlings scheinen die Islamisten zu sein. Was ist passiert?
Dass die Islamisten die Oberhand gewinnen, ist nicht überraschend. Die eigentliche Sensation wäre gewesen, wenn die Moslembrüder in Ägypten die freien Wahlen nicht gewonnen hätten. Die grosse islamische Organisation in Ägypten sind die Moslembrüder. Diese sind bei der Bevölkerung beliebt, ebenso in Tunesien.

Warum sind sie so beliebt?
Die Menschen sind religiös. Gleichzeitig wollen sie ihre Freiheit, ihren Wohlstand. Deshalb wählen sie die Moslembrüder. Die Moslembrüder verfügen über ein soziales Programm. Sie sagen, sie seien demokratisch und religiös. Das entspricht genau der Haltung der Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern.

Die Moslembrüder sind gemässigt?
Sie unterscheiden sich von radikalen Gruppierungen, die von fundamentalistischen, ölreichen Staaten wie Saudi Arabien unterstützt werden und ein anderes Programm verfolgen. Diese wollen zurück zu den Quellen des Islams. Die Welt soll so organisiert sein, wie sie es zu den Zeiten Mohammeds war. Islamische Gruppen in Europa, die beispielsweise für die Steinigung von Frauen sind, weil das eine islamische Strafe sei, haben meistens einen saudischen Hintergrund. Es sind nicht aufgeklärte Sunniten oder solche, die lange hier gelebt haben, sondern radikale Gruppierungen, die sich aus Leuten rekrutieren, die den Islam als ihre Religion entdeckt haben. Diese Salafisten sind sehr stark geworden und bilden ein Problem für die Politik in Ägypten und Tunesien, weil sie ihre Alleinherrschaft unter islamischen Vorzeichen errichten wollen.

Warum können sich die gemässigten Kräfte nicht gegen die Salafisten durchsetzen?
Weil die Moslembrüder Bündnisse mit diesen radikalen Organisationen eingehen. Im Grunde bestimmen die Radikalen die Politik der Mehrheit. Aber die Mehrheit der Bevölkerung will keine radikal-islamische Regierung. Das sieht man in Ägypten bei den Demonstrationen gegen Präsident Mursi.

Entwickeln sich die Länder, die vom arabischen Frühling erfasst wurden, zu islamischen Diktaturen?
Es besteht die Gefahr. Die Radikalisierung ist auch das Ergebnis von grossen sozialen Problemen, zu denen der Westen beiträgt. Westliche Staaten haben tausende von Milliarden Dollar ausgegeben für Kriege in dieser Region, aber nur wenige Milliarden für die Sozialpolitik. Wenn diese Gelder fehlen, verstärkt sich die Tendenz zur Diktatur. So war es auch in Tunesien unter Ben Ali, einem Diktator, der für den Westen gearbeitet hat. Ben Ali und sein Klan haben sich enorm bereichert. Die Regierungen von Afghanistan und Irak gehören zu den korruptesten der Welt.

Sie sagen, die Politik der westlichen Länder leistet dem islamischen Radikalismus Vorschub?
Der Westen hat demokratische Verhältnisse nie geduldet, wenn die Wahlergebnisse nicht so waren, wie man sich das vorgestellt hatte. In Europa hat es lange gedauert, bis Demokratien entstanden sind. Auch die arabischen Staaten brauchen Zeit. Es wird heute unterschlagen, dass der Orient noch bis zum Zweiten Weltkrieg in absoluter Abhängigkeit des Westens stand. Erst Nasser entzog den Suezkanal den europäischen Kolonialisten. Aber die nationalistischen und linken Strömungen haben die sozialen Probleme in der Region nicht gelöst. Jetzt sagen die Moslembrüder, der Islam sei die Antwort. Ich glaube, der Islam wird nicht die Antwort sein, weil es um globale ökonomische Probleme geht. Irgendwann wird die Ernüchterung kommen. Das bedeutet nicht, dass sich die Menschen von der Religion abwenden, aber von der überstarken Bedeutung, welche die Religion heute in der Politik hat.

Zurzeit scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Radikale Truppen sind auf dem Vormarsch in Mali.
Der Westen hat in Libyen die radikalen Kräfte unterstützt, die bereit waren zu schiessen, und nicht die zivilen Kräfte. Ein junger Intellektueller, der keine Arbeit hatte und auf die Strasse ging, musste erleben, dass der Strassenprotest letztlich nur in den Bürgerkrieg führt. Also schloss er sich möglicherweise den Radikalen an und kämpfte. Auch in Algerien, wo die islamische Bewegung die Wahlen gewonnen hatte, griff das Militär ein. Die Radikalen wurden in die Wüste abgedrängt. Die Aufrüstung der Sahara-Region erfolgte mit Waffen aus Libyen. Das Resultat ist der Wüstenkrieg in Zentralafrika. Die bewaffneten Konflikte haben dazu geführt, dass im Orient ein grosses Chaos entstanden ist. Je mehr Unruhe entsteht, umso besser können sich Radikale positionieren. Das Scheitern der zivilen Bewegung in Libyen und Syrien wird Radikalismus schüren. Das liegt nicht am Islam, sondern an der verfehlten westlichen Politik.

Gibt die Geiselnahme auf dem Gasfeld in Algerien dem Einsatz der Franzosen nicht Recht?
Sie ist das Ergebnis dieser falschen Politik. Die Menschen dort sehen sich an die Kolonialzeit erinnert. Die Europäer unterstützen in Zentralafrika immer wieder korrupte Diktaturen, gegen die sich Teile der Bevölkerung erheben. Darauf folgt die militärische Intervention des Westens. Hinterher wird man sagen: «Wir kämpfen gegen Radikalismus». Das kann nicht funktionieren.

Wie kann der Westen den Aufbau von Demokratien unterstützen?
Man muss die Menschen, die friedlich protestieren, so unterstützen, wie sie das möchten. In Ägypten hat man das gemacht, in Syrien nicht. Die zivilen, demokratischen Kräfte dort sitzen jetzt zwischen den Fronten. Die militanten Moslems schiessen, die Christen warten. Die Christen werden die grossen Verlierer sein in Syrien. Ihre Zahl wird sich halbieren, in zehn Jahren werden kaum noch Christen in Syrien leben. Die Kirchenführer haben zu lange mit Assad zusammengearbeitet. Aber die christliche Bevölkerung war dagegen. Sie sitzt nun in der Falle des bewaffneten Aufstandes. Den Ölpotentaten, den Saudis, kommt das gerade recht. Was im Westen als Kampf gegen eine Diktatur dargestellt wird, wirkt auf die anderen Staaten des Orients abschreckend: Besser gar nicht anfangen zu protestieren, sonst gibt es Bürgerkrieg.

Die Verfolgung von Christen im Orient hat zugenommen. Ist der arabische Frühling schuld daran?
Die junge Generation, die den arabischen Frühling getragen hat, möchte ähnliche Lebensverhältnisse wie im Westen. Sie wollen ihre Freiheit, sozial vernünftig leben, ihre Familien gründen können all das ist in den armen, bevölkerungsreichen Staaten des Orients kaum noch möglich. Der arabische Frühling ist vorerst beendet, sogar zusammengebrochen. Nun wird die Feindschaft zwischen Christen und Muslimen durch den islamischen Radikalismus und durch westliche Propaganda weiter angefacht.

Viele Menschen fürchten sich vor Terroranschlägen und einer Islamisierung.
Wenn ein Radikaler im Orient sagt, man werde Europa islamisieren, schürt das Angstgefühle. Im Westen wurde sehr viel ideologische Arbeit geleistet, eine derartige Furcht zu steigern. Die Medien haben dazu beigetragen. Das Abendland glaubt, man müsse die Radikalen in Afghanistan bekämpfen, als ob damit die westliche Zivilisation gesichert würde. Doch ich kenne keinen einzigen Anschlag ausserhalb Afghanistans, der von einem Afghanen verübt wurde. Von den Attentätern von 9/11 waren die Hälfte Saudis. Man hätte also auch sagen können: «Wir greifen Saudi-Arabien an, den Kern des radikalen fundamentalen Islams.» Bin Laden kam aus Saudi-Arabien. Er vertrat den Wüstenislam der Salafisten, der sehr militant geworden ist und durch Ölgelder finanziert wird.

Wenn Muslime bei uns sagen, sie fänden die Steinigung von Frauen in Ordnung, kann das schon Angst machen.
Die Hinrichtung von Frauen durch Steinigung steht nicht im Koran. Ich will damit den Koran nicht verteidigen, aber man darf nicht alles, was aus der Stammesgesellschaft kommt, mit dem Islam verwechseln. Der Wüstenislam der Radikalen ist eine Mischung aus Stammesrecht und traditionellem Islam. Ein Prinzip des Stammesrechts ist es, den Stamm und nicht den Täter zu bestrafen. Im Islam hingegen ist, wie im Christentum, das Individuum vor dem Richter verantwortlich für seine Taten.

Aber die Frauen werden doch diskriminiert.
Die Frauendebatte im Islam ist höchst interessant. Die Frauen, die in Ägypten gegen Mursi auf die Strasse gehen, tragen Kopftuch. Viele gläubige Frauen sagen, dass es nicht ihren Interessen entspricht, was unter dem Motto des Islams passiert. Sie wollen Gleichberechtigung. Das passiert auch im Iran, wo heute doppelt so viele Frauen wie Männer studieren. Diesen Vormarsch der Frauen wird es in der ganzen arabischen Welt geben.

Braucht es im Orient eine Aufklärung nach europäischem Muster?
Ich glaube, Aufklärung wird automatisch kommen, aber sie dürfte anders als in Europa verlaufen. Die Jugend im Orient nutzt das Internet auf ihre Weise und hat ihre eigenen Foren entwickelt. Dort findet eine intensive Auseinandersetzung statt. Die Mehrheit der Muslime will eine Ausbildung, ein vernünftiges Sozial- und Gesundheitssystem, ein gutes Auskommen für die Familie. Es wird sich viel ändern. Welche Formen das annimmt und welche Art von Islam sich dann entwickelt, muss sich zeigen. Aber der Islam wird sich modernisieren. Familien, die verängstigt sind, weil sie sich unter Druck gesetzt fühlen, greifen auf alte islamische Konzepte zurück. Die Jugend ist viel aufgeklärter und will mit dem Wüstenradikalismus nichts zu tun haben. Aber Wandel braucht Zeit. Der Orient ist politisch dort, wo Europa 1848 war. Wir sollten anderen Kulturen die Entwicklungsschritte zubilligen, die wir selber durchlaufen haben. Wenn man versucht, das zu unterdrücken, oder den Menschen unterstellt, sie wollten das nicht, treibt man sie meiner Meinung nach in die Arme der al-Qaida.




Ulrich Tilgner ist Journalist und Auslandskorrespondent. Er berichtet regelmässig für das Schweizer Fernsehen SRF. Für seine Berichterstattung über den Irak-Krieg erhielt er 2003 den Hanns-Joachim-Friedrich-Preis für Fernsehjournalismus.

Zum Bild: Im Gegensatz zu Ägypten verlief der Aufstand in Syrien nicht friedlich, sondern mündete in einen Bürgerkrieg.

Interview: Karin Müller

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Ulrich Tilgner.

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