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«Das Leben gehört nicht uns»

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01.01.2016
Der Schaffhauser Kantonsrat hat beschlossen, aus der Atomkraft auszusteigen. In der Abstimmung vom 8. März geht es darum, dies mit ersten konkreten Schritten umzusetzen und diese Schritte durch das Volk absegnen zu lassen. Ein Gespräch dazu mit Ruedi Waldvogel, Pfarrer im Ruhestand und Kenner der Materie, über Energie, menschliche Gier und Verantwortung der Kirche.

Was ist Energie aus biblischer Sicht?
Das griechische Wort «enérgeia» drückt die Wirkkraft aus, die in einem Lebewesen steckt. Die Lebenskraft, die wir nicht selber erzeugen können, ist ein Geschenk. Und durch dieses Geschenk sind wir mit der gesamten Schöpfung verbunden.

Wo wird das in der Bibel deutlich?
In der Schöpfungsgeschichte. Und in Psalm 104. Dort wird eine riesengrosse, herrliche Natur beschrieben mit allen Tieren. Am Schluss kommt der Mensch, eingebettet als Teil des Ganzen. Er bekommt drei kostbare Geschenke: Öl, um sich zu pflegen, Wein, um das Leben zu geniessen und Brot, um die täglichen Bedürfnisse zu decken. Die Gefahr, dass der Mensch die Natur zerstören könnte, kommt nicht vor. Zu biblischen Zeiten war die Natur etwas, worin sich der Mensch behaupten musste.

Erscheint das heute nicht umgekehrt?
Doch, denn das Menschenbild ist nicht mehr dasselbe. Heute stellt sich die Frage, ob der Mensch ein gieriges Wesen ist, und ob die Gier der Motor von allem ist. Die Main-Stream-Ökonomie suggeriert, dass wir gierig sein sollen. Das Konsumverhalten wird gefördert. Die Rendite steht im Vordergrund. Einen Schritt zurückzugehen, auf gewohnten Komfort zu verzichten, ist für viele Menschen undenkbar.

Welches Menschenbild vertritt die Bibel?
Die Bibel vertritt ein Menschenbild, bei dem der Antrieb nicht aus der eigenen Gier kommt. In der Schöpfungsgeschichte heisst es, wir sollen die Schöpfung bebauen und bewahren. Bebauen zu dürfen, ist ein Privileg. Das Gegengewicht liegt im Bewahren. Diese Balance geht verloren, wenn unser Menschenbild durch Gier bestimmt ist. Die Bibel vertritt das Bild eines Menschen, der die Balance bewahrt. Das gelingt allerdings nur durch Masshalten und nicht durch Masslosigkeit.

Wie könnte das konkret aussehen?
Wenn der Kanton Schaffhausen beweist, dass wir die Elektrizität auch anders produzieren können als durch Atomkraftwerke, ist das für mich ein Schritt in die Richtung einer Gesellschaft, die Mass hält. Natürlich kann der Ausstieg aus der Atomenergie nur in einem langfristigen Prozess geschehen. Aber dieser Prozess zählt, weil er die Entwicklung von Alternativen umfasst. Am 8. März stimmen wir ab über einen ersten Schritt in diesen Prozess.

Hat das auch etwas mit Theologie zu tun?
Durchaus. Das Volk hat die Chance, in einem gemeinsamen Willen zu bekunden, ob wir weiterfahren auf der Schiene der Gier, oder ob wir auf das Ganze schauen wollen. Angefangen hat dieses Umdenken nach dem Tschernobyl- und Fukushima-Schock. Da war ein Erwachen. Jetzt sollte man schauen, dass man nicht wieder einschläft. Es geht um einen Schritt in eine Verantwortung der Welt gegenüber. Und gegenüber der kommenden Generationen. Für die Kinder und Kindeskinder zu schauen, hat für mich sehr viel mit Theologie zu tun.

Wo hat die Kirche ihre Verantwortung?
Im Bewusstmachen einer inneren Haltung. Schöpfung bedeutet: Das Leben gehört nicht uns. Wir sind Teil von etwas Grösserem. Ich bin ein Teil des Lebens. Das Leben ist nicht ein Teil von mir. Das ist eine Richtung, die die Kirche vertreten müsste in Gottesdiensten und Veranstaltungen. Das müssen wir uns bewusst machen und an der inneren Kraft arbeiten, die uns geschenkt wurde.

Was würde diese Haltung bewirken?
Ein Gespür zu entwickeln für das, was um mich herum geschieht. Wie geht es den Bäumen, den Flüssen, der Atmosphäre? Man kann durch einen Wald gehen und sich die Holzrechnung des Kantons vor Augen führen. Man kann aber auch der Natur nachspüren und fühlen, man ist Teil von etwas, das viel grösser ist. Ein Verbundensein mit dem Ganzen. Das ist für mich eine Art von Glauben. In dieser Haltung ist das Schützen der Natur kein Müssen, sondern eine Erfahrung. Wenn es mich schmerzt, wenn ich sehe, wie die Natur kaputt gemacht wird, macht mich das wach. Hier könnte die Kirche viel Boden bieten für eine vertiefte Wahrnehmung.





Zur Abstimmung
Die Abstimmung am 8. März enthält das Massnahmenpaket zur Umsetzung der kantonalen Energiestrategie. Konkret: Die Wiedereinführung und Finanzierung des kantonalen Energieförderprogramms sowie eine Anpassung im Baugesetz mit dem Ziel, die Abhängigkeit von importierten fossilen Energieträgern zu reduzieren und den Stromverbrauch zu stabilisieren. Das Massnahmenpaket enthält die ersten Schritte zur Umsetzung des kantonalrätlichen Beschlusses, langfristig aus der Atomenergie auszusteigen. Kantonale Abstimmungsbroschüre unter www.sh.ch.



Zum Bild: Ruedi Waldvogel, Pfarrer im Ruhestand, erinnert an den biblischen Auftrag, die Schöpfung auch für zukünftige Generationen zu bewahren. | pfister

Adriana Schneider

Links:
www.sh.ch

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