«Die Verweigerung kommt einem Todesurteil gleich»
Ende Januar 2013 berichteten die «Tagesschau» sowie Zeitungen, dass die offizielle Schweiz schon früh von den Massentötungen in den Konzentrationslagern der Nazis gewusst habe. 1942 hatten Schweizer Diplomaten Bundesbern in Kenntnis gesetzt. Ihre zahlreichen Berichte und Fotos dokumentierten detailliert, was jenseits der Schweizer Grenzen geschah.
Nicht nur die Diplomatie unterrichtete den Bundesrat über die Verbrechen jenseits der Grenze. Auch kirchliche Kreise und Publikationen berichteten im Schicksalsjahr 1942 über die Ermordung der Juden und machten sich für die Flüchtlinge stark.
Zensur auch für Kirchenpresse
Ende März 1942 verlässt der erste Zug mit französischen Jüdinnen und Juden Paris in Richtung Vernichtungslager im Osten. Im Juli 1942 berichtet das «Kirchenblatt für die reformierte Schweiz» erstmals von der bevorstehenden Deportation in Holland und der Verschleppung von slowakischen Juden. Rund eine Million Juden seien bisher ums Leben gekommen.
Einen Monat später veröffentlicht der Evangelische Pressedienst EPD einen Augenzeugenbericht über die Vorgänge in einem südfranzösischen Internierungslager für Juden auf dem Weg in den Osten. Von nun an berichtet der EPD regelmässig über diese Verbrechen. Einzelne Kirchenzeitungen greifen diese Berichte auf.
Die Reaktion des Bundes lässt nicht lange auf sich warten: Ab 1940 ist die Presse der Zensur unterworfen und erhalten scharfe Rügen. Doch einzelne Redaktoren lassen sich nicht einschüchtern. Angesicht des Verbrechens «das in seiner ganzen Bestialität als das schwerste Verbrechen in der Weltgeschichte überhaupt bezeichnet werden» müsse, komme es nicht in Frage, aus Gründen der Opportunität zu schweigen, verteidigt sich EPD-Redaktor Arthur Frey gegenüber der Zensur. Für ihn ist klar, Kirche und Presse mussten Widerstand leisten, «denn man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen».
Auch auf der Kanzel werden die Deportationen zum Thema. Im August 1942 berichtet Flüchtlingspfarrer Paul Vogt in einer Predigt in Thayngen, dass in Polen von insgesamt 4,2 Millionen Juden deren 3,9 Millionen ermordet worden seien.
«Flüchtlinge nur aus Rassengründe gelten nicht als politische Flüchtlinge»
Angesichts der vielen Todestransporte in die Vernichtungslager versuchen mehr und mehr jüdische Flüchtlinge das rettende Ufer der Schweiz zu erreichen. Am 13. August 1942 machte Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei, die Grenzen dicht. In einem vertraulichen Kreisschreiben an die kantonalen Polizeidirektionen weist er an, «Flüchtlinge nur aus Rassengründen, zum Beispiel Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge». Der Erlass sickert in die Öffentlichkeit durch und erregt den Protest von verschiedenen Seiten, auch von der reformiert-kirchlichen.
Im August wendet sich Kirchenratspräsident Alphons Koechlin ermutigt von einzelnen St. Galler und Basler Pfarrern schriftlich an Rothmund und fordert ihn auf, «da es sich bei der Aufnahme der Flüchtlinge um eigentliche Lebensrettung handle, diese nicht zurück zu stossen. Die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung käme wohl in sehr vielen Fällen einem Todesurteil gleich.» Ohne Erfolg. In einer zweistündigen Besprechung erläutert Rothmund dem SEK-Präsidenten die Notwendigkeit harter Abwehrmassnahmen. Zugeständnisse macht er keine.
Koechlin gibt nicht auf. Er interveniert schriftlich bei Bundesrat von Steiger. In der Schweiz bestehe keine zwingende Notlage, die eine Aufnahme der Verfolgten unmöglich mache, schreibt er an den Bundesrat. Nach der Einsprache der Flüchtlingsmutter Gertrud Kurz und des Basler Bankiers Paul Dreyfuss lenkt von Steiger etwas ein. In besonderen Fällen sei von Zurückweisung abzusehen, ordnet der Bundesrat an.
Kirchliche Kreise stellen nicht nur Forderungen auf, sondern bieten ihre konkrete Hilfe an. So erklärt der Vorstand des «Schweizerischen Verbands der Frauenhilfe», dass viele ihrer Mitglieder bereit seien, «monatlich eine bestimmte, ihren Mitteln angemessene Summe für die Unterbringung von Flüchtlingen zu zahlen und jeden Monat etwas Bestimmtes (eine Ration von 200 Gramm) von ihrer Lebensmittelkarte abzugeben.»
«Rationierte Menschlichkeit ist keine Menschlichkeit mehr»
Nach der Rückkehr von Steigers aus seinen Ferien in Zermatt kommt es zum offenen Schlagabstausch zwischen Kirchenvertretern und Bundesrat. Im August 1942 findet im Zürcher Hallenstadion die Landsgemeinde der Jungen Kirche statt. 6000 Jugendliche sind gekommen. Im Grusswort und in der Predigt protestieren Max Wolff, Präsident der Zürcher Kirchensynode, und Pfarrer Walter Lüthi gegen die «Rückstossung von Flüchtlingen».
In seiner Antwort greift Bundesrat von Steiger auf die berühmt-berüchtigte Metapher vom «vollen Boot» zurück. Von Steigers Rede stösst bei vielen auf Unverständnis. «Rationierte Menschlichkeit ist keine Menschlichkeit mehr», meint dazu etwa der Theologiestudent Andreas Lindt.
Nach der Oerlikoner Tagung zeigt sich Bundesrat von Steiger von den Kirchen enttäuscht, dass «man in 6000 junge Schweizerherzen Zweifel und Unsicherheit träufelte.»
Ängstlichkeit und Leisetreterei
Neben diesem Auftreten gegenüber der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik der Fremdenpolizei und des Bundesrates gab es jedoch auch in der Kirche Ängstlichkeit und Leisetreterei. Einige Pfarrer verteidigten von Steigers Flüchtlingspolitik. Nach der Landsgemeinde der Jungen Kirche distanzierte sich der Zürcher Kirchenrat von der Erklärung ihres Synodepräsidenten Max Wolff. Was er gesagt habe, habe er im eigenen Namen getan, erklärte die Zürcher Kirchenleitung.
Das Versagen in der Flüchtlingspolitik ist darauf zurückzuführen, dass die Kirche zwar den Antisemitismus aus Rassengründen bekämpfte, hingegen weiterhin dem theologischen Antijudaismus huldigte. Es gab in den vierziger Jahren Ansätze der Neubesinnung: Während die Theologen Arthur Rich und die Basler Karl Barth und Wilhelm Vischer das Verhältnis zwischen Juden und Christen 1942 neu bewerteten, vertraten die Zürcher Kollegen Emil Brunner und Walther Zimmerli nach wie vor die Degradierungsthese, wonach das Judentum seine Berufung zum Gottesvolk an die Christenheit verloren habe.
Quelle der Daten: Hermann Kocher, Rationierte Menschlichkeit. Schweizer Protestantismus im Spannungsfeld von Flüchtlingsnot und öffentlicher Flüchtlingspolitik der Schweiz 1933 bis 1948, Chronos Verlag Zürich
Zum Bild: Flüchtlinge aus Frankreich überqueren 1940 die Schweizer Grenze: 1942 schloss der Bundesrat die Grenzen für jüdische Flüchtlinge. Mit katastrophalen Folgen.| keystone
Walter Wolf / tz
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