«Die sehen aus wie Engelsflügel»
«Kürzlich fuhr ich nachts mit dem Auto über den San Bernardino, und da sah ich einen Engel.» So erzählte mir Norbert. In Erwartung eines träfen Sarkasmus verzog sich mein Gesicht unwillkürlich in ein Grinsen. Denn der intellektuelle Norbert ist nicht nur ein ängstlicher Autofahrer, der nachts seine Frau fahren lässt, sondern er hat für die grassierende Engels-Inflation unserer Zeit nur Hohn und Spott übrig.
«Zurzeit befinden sich mehr Engel auf Erden als jemals zuvor.»
Schon früher einmal diskutierten wir das Thema. Es ging um die Verlautbarung einer professionellen Engel-Seherin. Sie stellt die Frage, weshalb heute so viel über Engel gesprochen werde. Ihre Antwort leuchtet sogar einem Banausen wie mir ein: «Da sich die Schwingung des Planeten Erde erhöht, spüren mehr und mehr Menschen die Präsenz der Engel. Zurzeit befinden sich mehr Engel auf Erden als jemals zuvor. Ein Grund liegt darin, dass sich mehr Seelen inkarniert haben und dass jeder Mensch einen Schutzengel hat.» So ist das also.
Mein Grinsen bleibt hängen
Zurück zum San Bernardino. Es folgte alles andere als eine humorvolle Pointe, und mein blödes Grinsen blieb im Vakuum hängen: «Conny hatte Migräne, deshalb fuhr ich», erklärte Norbert. «Ein Megastress! All die Kurven: Scheinwerfer ein – Scheinwerfer aus – Scheinwerfer ein! Dazu ein scharfer Nordföhn; krampfhaft klammerte ich mich an das Steuerrad. Soeben wollte ich vorschlagen, hier irgendwo zu übernachten, als mich der Wagen hinter mir überholte. Er spurte gleich wieder ein und für einen Augenblick war ich geblendet. Die leuchtend roten, weit geschwungenen Rücklichter erschreckten mich. Um im nächsten Augenblick zu realisieren: ‹Die sehen eigentlich aus wie Engelsflügel!› Der Wagen beschleunigte moderat, und ich konnte ihm getrost bis Thusis folgen. Dort schwenkte er ab. Ich war unglaublich erleichtert und dankbar für die hilfreiche, sichere Führung.»
«Vielleicht ist ein Auto manchmal doch mehr als nur ein Auto.»
Diese banale Erfahrung brachte Norbert auf überraschende Gedanken. Er findet es weiterhin absurd, mit Engeln gezielt Kontakt aufzunehmen. Er hält weiterhin nichts von Engels-Hierarchien und privaten Schutzengeln und individuellen Engels-Botschaften und all dem «Gschmäus». Allerdings bin ich gespannt, wie er auf eine Aussage reagieren wird, auf die ich kürzlich stiess: «Engel zu spüren und zu empfinden ist ein Zustand, eine geistige Entwicklung, die wir uns selbst erarbeiten können.» Vielleicht erarbeitete sich Norbert ja durch den San-Bernardino-Stress diesen Zustand. Ja und? Ist dies ein Kriterium, dass es sich bei jenem Auto um keinen Engel handelte?
Hatte der gute Mann einfach Glück?
Manchmal mache ich es mir als reformierter Christ wirklich einfach. Mir scheint eindeutig, dass dies ein normales Auto war und dass der gute Mann schlicht Glück hatte. Er soll dem lieben Gott dafür danke sagen. Was darüber hinausgeht, ist Aberglaube. Doch Hand aufs Herz: Sind solch mentale Einengungen nicht stets auch eine Art von Aberglaube? Es ist gut, wenn der Kopf immer wieder das Herz infrage stellt. Aber ebenso oft sollte es auch umgekehrt laufen. Keine Wahrheit kann intellektuell ganz erfasst werden.
«Engel manifestieren sich, wie und wo Gott es als sinnvoll erachtet.»
Vielleicht ist ein Auto manchmal halt doch mehr als nur ein Auto. Eine analoge Erfahrung machte jedenfalls das Volk Israel vor über 3000 Jahren. Damals ging es um eine Wolke, die mehr war als nur eine Wolke. Diese hatte die Israeliten zum Schilfmeer geführt. Jetzt ist ihnen der Pharao mit seiner Armee auf den Fersen. Purer Stress! Die Bibel erzählt: «Da brach der Bote Gottes (Engel) auf, der vor dem Heer Israels ging, und begab sich hinter sie, und die Wolkensäule brach auf von ihrer Spitze und stellte sich hinter sie.» (Exodus 19,14)
Traum, Vision, Begegnung
Wolke und Engel liessen sich nicht unterscheiden. Auto und Engel lassen sich auch nicht immer unterscheiden. Engel manifestieren sich, wie und wo Gott es als sinnvoll erachtet: Als Begegnung im Alltag (Gideon), als Traum in Nazareth (Josef), als Störenfried im Beruf (Zacharias), als kollektive Vision (Hirten) usw. Herbeirufen und herbeiwünschen lassen sich die Engel nicht. Nicht einmal herbeibeten. Herbeisehnen manchmal schon. Nur dass wir sie dann oft nicht erkennen. Weil sie eben nur Wolken sind oder nur Autos oder nur Menschen – oder mindestens so aussehen. Flügel gaben wir Christen ihnen sowieso erst im 4. Jahrhundert. Aufschlussreich ist das apokryphe Buch Tobit. Tobias, der Sohn des blinden Tobit, macht sich auf den Weg, um eine Medizin für seinen Vater zu finden. Ein mysteriöser Reisebegleiter hilft ihm dabei. Wie denn alles erledigt ist und gleich noch einige weitere Probleme gelöst sind, gibt sich dieser als Engel zu erkennen. Das war ein gewaltiges Vorrecht, denn meistens merkt man es erst im Nachhinein: «Meine Güte! Das muss ein Engel gewesen sein!» Schon gut so. Denn wer im Vornherein zu wissen meint, wie sein Engel aussieht, der schliesst allzu viele Optionen aus. Deshalb mahnt ja der Hebräerbrief: «Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, vergesst nicht – so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.» (Hebräer 13,2)
Und Norbert? Seit seiner Kurskorrektur sagt er: «Ich erwarte nie einen Engel. Aber ich gehe davon aus, dass trotzdem manchmal einer da ist.»
Text: Rolf Kühni, em. Pfarrer von Sargans | Foto: zVg, meka – Kirchenbote SG, Dezember 2021
«Die sehen aus wie Engelsflügel»