«Ehrlich seine Not bekennen ist achtenswert»
Herr Rothen, Sie vergleichen in Ihrem Buch die evangelischen Kirchen mit einem Sterbenden. Sind Sie als Pfarrer nur noch Sterbebegleiter?
Nein, überhaupt nicht. Die Institution Kirche kann sterben. Das heisst aber nicht, dass die Kirche Jesu Christi stirbt. Ich schreibe auch, dass wir eine Verheissung haben für jede gute Tat. Alles nimmt ein Ende, trotzdem habe ich nicht den Eindruck, dass ich umsonst arbeite. Auch jede Krankenpflege bringt ja nur eine Heilung auf Zeit. Alles, was ich den Kindern oder Alten in der Gemeinde mitgebe, erachte ich für sinnvoll. Ich sage auch alten Menschen, dass jede Erkenntnis, die sie noch erwerben, ein Gewinn ist auf ewig.
Das erinnert ein wenig an Luthers Apfelbäumchen
Diese Geschichte ist erfunden. So souverän wäre Luther nicht gewesen. Sie wurde im Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg in Umlauf gebracht, weil man damit der Schuldfrage ausweichen konnte. Wenn man zu schnell Apfelbäumchen pflanzt, kann man zu leicht über Schweres hinweggehen.
Konnten Sie in Ihren 31 Jahren als Pfarrer feststellen, dass die Kirche an Lebendigkeit verloren hat?
Man merkt den Bedeutungsverlust. Als ich vor 31 Jahren Pfarrer in Zweisimmen wurde, war das für die Gemeinde ein wichtiges Ereignis. Vor fünf Jahren in Hundwil war das schon anders. Die Ausstrahlungskraft hat abgenommen. Dabei hat sich das Leben in der Gemeinde gar nicht so stark verändert. Die evangelischen Kirchen haben auch früher nicht die grossen Massen angezogen. Aber heute schwindet die staatliche Unterstützung und damit der traditionelle Rückhalt. Auf diese Krise reagiert man, indem man die Kirchen stromlinienförmig machen will. Das führt zu illiberalen Zwängen.
Warum ist dieser Prozess illiberal?
Wenn sich der Staat zurückzieht, sind die Kirchen genötigt, ihr Profil zu schärfen. Sie müssen sich als handlungsfähige Subjekte etablieren. Es entsteht ein Druck, Gemeinsamkeiten zu schaffen, und das geht nicht ohne manipulative Nötigungen. Denn unsere Kirchen haben keine Tradition im Umgang mit einer zentralen Macht. Unsere Synoden sind keine Parlamente mit einer eingespielten Politkultur.
Können Sie das konkretisieren?
Ganz praktisch gesprochen: Sobald es weniger zu verteilen gibt, werden die Verteilkämpfe schärfer. Und weil in der Kirche niemand für sich kämpfen darf, kleidet man das in die Nebelpetarden von lauter suggerierten Win-Win-Situationen. Doch die Anzahl der Anlässe, an denen sich das Kirchenvolk sammelt, wird kleiner. Wer darf da reden? Man muss Schwerpunkte setzen und Aktivitäten zurücknehmen. Welche? Die Bibelstunde oder die therapeutische Gesprächsgruppe? Wer entscheidet das? Nach welchen Kriterien? Werden die Sonderämter abgebaut? Oder die Gemeindepfarrämter?
In Ihrem Buch kritisieren Sie auch das «Allheilmittel» Fusion
Ich habe nichts dagegen, wenn Kirchgemeinden von sich aus sagen, sie wollen zusammenspannen. Aber das sollte aus den Gemeinden heraus wachsen. Brandgefährlich sind Planspiele, bei denen eine Zentrale sagt, was zu tun sei. So kann viel kaputtgehen.
Trotzdem muss man irgendwie die finanziellen Probleme anpacken
Diese Probleme kommen natürlich. Wir reden in unserer Gemeinde ganz offen darüber. Wenn es so weit ist, werden wir bei einer Nachbargemeinde anklopfen und um Hilfe bitten. Dann gibt es zumindest klare Verhältnisse. Es ist keine Schande einzugestehen, dass man Hilfe braucht. Das ist ehrlicher als so zu tun, als würden zwei gesunde Partner miteinander verhandeln. Ehrlich seine Not bekennen, ist achtenswert. Dann bewegen wir uns in genuin christlichen Kategorien. Natürlich bedaure ich die zunehmende Schwäche der Kirchen, gerade jetzt, wo sie angesichts der Flüchtlinge handeln müssten. Aber wir müssen realistisch sein.
Jetzt denken Sie aber sehr pragmatisch und nicht mehr in Kategorien der Nächstenliebe
Doch, natürlich. Sehen Sie, vor hundert Jahren war die Kirche noch eine Macht. Es waren die Kirchen, die auf die Massaker an den Armeniern 1895 reagierten und so eine Bewegung in der ganzen Schweiz auslösten. Aber heute hat die Kirche diese Macht nicht mehr. Ich könnte zum Beispiel Flüchtlinge bei mir im Pfarrhaus einquartieren, aber dann lade ich einen ganzen Sozialapparat mit ein. Dieser bestimmt dann, was zu geschehen hat. Der Sozialstaat ist eine Bedrohung der Nächstenliebe. Er birgt die Gefahr, dass die Liebe erkaltet, weil ich mich nicht mehr kümmern muss. Das tut der Apparat.
Denken Sie, dass die Kirche in der Flüchtlingsfrage zu naiv ist?
Ich denke, man sollte den Automatismus der Nächstenliebe stärker problematisieren. Als man nach dem 2. Weltkrieg die Sozialwerke einführte, gab es kritische Stimmen, die sagten: «Das wird die Kirche töten.» Wachsame Zeitgenossen fürchteten, es werde die Liebe ersticken, wenn der Staat ein Recht auf Nächstenliebe garantiert. Viele Flüchtlinge kommen aus schrecklicher Not, aber auch bei allen anderen ist es mehr als begreiflich, dass sie sich im Westen ein besseres Leben erhoffen. Das kann ihnen niemand verübeln. Aber aus unserer pastoralen Erfahrung sollten wir thematisieren, dass da gewaltige Probleme auf uns zukommen, für die wir schlecht gerüstet sind.
Sie kritisieren, die Kirche schwimme zu sehr im pluralistischen Mainstream. Sollte sie wieder dogmatischer sein?
Nein, aber wir sollten intensiver über die alten Dogmen nachdenken. Sie sind ziemlich gute Zusammenfassungen der biblischen Botschaft. Heute dominiert die romantische Neuaufwärmung von Schleiermacher. Man liest die Bibel als Spiegel der eigenen Gefühle. Das wird weder der Schrift noch den Herausforderungen unserer Zeit gerecht. Die Bibel ermöglicht es, eine grosse Vielfalt positiv zu bejahen, ohne es sich in einem Pluralismus bequem zu machen. Die Hauptverantwortung für die Krämpfe der Kirchen liegt bei den Theologischen Fakultäten. Wir haben hoch bezahlte und reflektierte Leute, die weder den Reformprozess der Kirche noch die sozialen Entwicklungen wirklich kritisch begleiten. Nehmen Sie Bern: Haben Sie davon gehört, dass sich die Fakultät zum aktuellen Trennungsprozess äussert? Wer in der Bibel verwurzelt ist, gewinnt ein freies Urteil. Statt schön vom Individualismus zu reden, gilt es doch dagegen anzukämpfen, dass die Menschen zunehmend zu Staubkörnern im Wind der Zeit werden.
Das gilt auch für die Pfarrerinnen und Pfarrer?
Für viele Pfarrer ist es ein echt quälendes Problem, dass immer mehr Leute überhaupt nicht mehr im Bibelwort beheimatet sind. Darum erzählen sie in den Predigten lieber ein bisschen von Pippi Langstrumpf. Ich selber versuche auch in jedem Kasualgottesdienst ein herausforderndes Wort der Bibel zum Klingen zu bringen. Wenn ich dann merke, dass meine Botschaft nicht angekommen ist, plagt mich das. Ich möchte ja die Herzen erreichen. In solchen Momenten verstehe ich die Kollegen, die lieber von einem Sonnenaufgang oder Spuren im Sand erzählen. Aber das ist am Ende für niemanden wirklich hilfreich. Es gibt Pfarrer, die sich allen Ernstes als Dienstleister verstehen und den Menschen das sagen, was sie gerade gern hören. Wie sie das pastoral verantworten können, weiss ich nicht. Christus nimmt uns doch in Pflicht, die Schwachen zu schützen und darum auch das zur Sprache zu bringen, was die Mächtigen des Augenblicks nicht hören wollen.
Bernhard Rothen
ist seit 2010 Pfarrer in Hundwil/AR. Zuvor war er Münsterpfarrer in Basel. Er präsidiert die Stiftung Bruder Klaus und den Evangelisch-theologischen Pfarrverein im Kanton Bern. Rothen verfasste Studien zur Grundlage der Theologie bei Martin Luther und Karl Barth und zu den geschichtlichen Grundlagen des Pfarramts. Sein neustes Buch «Auf Sand gebaut» wurde kontrovers diskutiert, zuletzt Anfang Oktober anlässlich einer Retraite des Schweizerischen Protestantischen Volksbundes (SPV).
Rothen, Paul Bernhard: Auf Sand gebaut. LIT-Verlag, 2. Auflage, Zürich 2015. 86 Seiten, Fr. 16.90.
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
Zum Bild: Bernhard Rothen: «Die Hauptverantwortung für die Krämpfe der Kirchen liegt bei den Theologischen Fakultäten.»
Heimito Nollé / ref.ch / 30. Oktober 2015
«Ehrlich seine Not bekennen ist achtenswert»