«Natürlich darf man»
Herr Bollag, wie stehts ums Verhältnis zwischen den christlichen Kirchen und den jüdischen Gemeinschaften?
Auf der offiziellen Ebene sind die Beziehungen gut: Die christlichen Kirchen haben den Prozess der Aufarbeitung hinter sich, und die Juden haben ein Interesse, in der Schweiz gut leben zu können. An der Basis jedoch wirkt noch die langjährige Geschichte von Vorurteilen und Verfolgungen nach, die tiefe Wunden hinterlassen hat. Die jüdische Gemeinschaft hat deshalb die Tendenz, sich zurückzuziehen. Sie ist am Erhalt der eigenen Substanz interessiert und nimmt jede Störung, die von aussen kommt, besonders stark wahr. An der Basis steht der Dialog zwischen Christen und Juden erst am Anfang.
Welche Störungen meinen Sie?
Konkret meine ich die Kritik an Israel, die von vielen Juden als Verletzung der jüdischen Identität verstanden wird. Und natürlich die alten Klischees, die nach wie vor bestehen in gewissen Kreisen ist der Antisemitismus wieder salonfähig geworden.
Hat der Antisemitismus zugenommen?
Nein. Aber es werden heute in der Öffentlichkeit Äusserungen gemacht, die man noch vor Kurzem nicht wagte. Neben der differenzierten Israelkritik gibt es eine Kritik am Staat Israel. Darin tritt der Antisemitismus zutage.
Darf man Israel nicht kritisieren?
Doch, natürlich darf man. Man kann dem Vorwurf des Antisemitismus entgegenwirken, indem man den Konflikt im Nahen Osten versteht und die verschiedenen Konfliktparteien und deren Hintergründe differenziert darstellt. Man sollte weniger schlagwortartig berichten. Und zeigen, dass es in der Auseinandersetzung verschiedene Friedensprojekte gibt, die auf lange Sicht einiges verändern werden. Ich denke, viele Juden wären empfänglicher für Kritik an Israel, wenn sie das Gefühl hätten, die anderen seien wirklich bereit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und nicht nur Pauschalurteile abzugeben.
Interview: Tilmann Zuber
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