Die Kraft der Stille
Peter Wild, warum halten so viele Leute die Stille nicht aus? Wenn sie nach Hause kommen, stellen sie das Radio oder den Fernseher ein. Es scheint, als brauchten wir diese Dauerberieselung.
Das ist unsere Unsicherheit. Stellen wir den Fernseher an, dann geschieht etwas. Viele spüren sich nur, wenn sie aktiv sind. Wenn nichts passiert, sind sie niemand. Die Medien holen uns in eine Dimension, die uns Grösse verleiht und uns am Weltgeschehen teilnehmen lässt. Eigentlich sind wir Menschen etwas Geringfügiges. Mit dem ganzen Betrieb, den wir aufbauen, versuchen wir, diese Geringfügigkeit in etwas zu verwandeln, das uns Gewicht und Sinn verleiht.
Wo findet man in der hektischen und lauten Welt noch Stille?
Das hängt von einem selbst ab. Stille kann man in der Natur, im Garten oder in der Musik finden. Man muss sich auf etwas einlassen, in dem man sich geborgen fühlt, so dass man nicht ständig nachdenken, bewerten und Stellung nehmen muss.
Sind Stille und Ruhe eine innere Dimension?
Unruhe und Lärm entstehen, wenn wir uns von unseren Ängsten, Sorgen und Gedanken jagen lassen. Sobald ich mich jedoch voller Vertrauen auf die Stille einlasse, lasse ich los und komme zur Ruhe.
Kann man dies lernen?
Ja, man kann dies üben. Den einen gelingt es leichter. Andere merken erst aufgrund einer Krise, dass die ständige Unruhe zu Stress und Burn-out führt.
Bei den heutigen Medien ist es schwierig, sich abzugrenzen.
Kürzlich sass ich in einem Gottesdienst, in dem nicht wenige Besucher ihre Mails und SMS gecheckt und telefoniert haben. Nicht einmal dort gibt es einen geschützten Raum. Wir sind heute in Etliches eingebunden. Arbeite ich am Computer, klingelt das Telefon und mein PC meldet mir drei neue Mails.
Warum ist es wichtig, dass wir still werden?
Stille verstärkt die Aufmerksamkeit. Sie hilft, Verhaltensmuster zu hinterfragen und zu erkennen, was einen besetzt. Stille bedeutet Sprachlosigkeit und damit Sprachkritik. Sie erleichtert einem, aus dem ständigen Kreislauf, sich und andere zu bewerten, auszusteigen. Die lärmigen Gedanken sind zwar noch da, aber wir identifizieren uns nicht mehr mit ihnen. Wer still wird, lässt los und vertraut darauf, dass es gut kommt.
Kommt man in der Stille Gott näher?
Stille in der Meditation bedeutet für mich, Vertrauen in Gottes Gegenwart zu haben. In der Stille muss ich mir und Gott nichts mehr vormachen und vorführen. Ich muss ihn nicht unterhalten und gewinne eine innere Sicherheit. Es ist wie in einer Beziehung: Auch dort kann man mit seinem Partner vieles unternehmen und teilen. Daneben gibt es die Momente, in denen man auf den anderen vertrauen darf und wo nicht mehr alles ausgesprochen werden muss.
Die christliche Spiritualität kennt den Moment der Stille. Jesus zog sich in die Einsamkeit zurück, ebenso die Wüstenväter, Eremiten und Mönche.
Ich habe etliche Jahre im Kloster Einsiedeln gelebt. Die Möglichkeiten zur Zerstreuung, die wir vorfinden, gibt es in einem Kloster nicht im selben Mass. Der Rhythmus, der hilft, in die Stille zu kommen, bestimmt den Klosteralltag. In den Zellen und Gängen dürfen die Mönche nicht miteinander reden. Nur in den Gemeinschaftsräumen. Auch meine Frau und ich haben für uns «Schweigeregeln», gewisse Themen im Bade- und Schlafzimmer nicht anzusprechen. Wir wollen uns so vom beruflichen Alltag abgrenzen.
Was können wir ändern, um Zeiten der Stille im Alltag einzurichten?
Öfters verweilen. Der Gegensatz von Verweilen ist Erledigen und Hinter-sich-Bringen. Viele wollen so viel wie möglich erledigen. Sie hetzen von einem zum anderen Termin. Sie lesen ein Buch, damit es gelesen ist. Sie essen, um die Mahlzeit hinter sich zu bringen. Die Schönheit und Einmaligkeit des Augenblicks geht dadurch verloren. Verweilen ist der erste Schritt in die Stille. Wenn ich verweile, erledige ich nicht etwas, sondern gehe im Tun auf.
Das Gefühl, etwas erledigen zu können, ist ein Trugschluss. Denn die nächste Aufgabe wartet schon.
Meistens schon die vier nächsten. Wir sollten versuchen, unser Tun zu geniessen. Wenn ich mir beim Kochen Zeit lasse, dann ist das etwas anderes, als wenn ich dies einfach erledige.
Solche Momente sollte man in der Agenda einplanen. Bedeutet dies nicht ein ständiger Kampf um Zeit?
Um sich nicht zu überfordern, sollte man beim Verweilen da anfangen, wo das Herz schlägt. Es ist wichtig, dort einzusteigen, wo es leichtfällt. Etwa beim Besuch der Enkel, für die man sich die Zeit nimmt und nicht schon plant, wie man sie wieder abgibt.
Wir pflegen einen Lebensstil des Erledigens. Hat das Verweilen noch Platz?
Das liegt in unserer Verantwortung. Wenn ich mir diesen Raum nehmen will, muss ich Grenzen ziehen und Lebensregeln aufstellen. In den Burn-out-Seminaren lernen die Teilnehmenden, ihren Rhythmus zu finden. Wenn wir wochenlang intensiv arbeiten, dann ist es wichtig, dass wir daneben Zeit für Ruhe und Ausgleich finden. Auch Paare, die jahrelang gearbeitet haben, sollten sich einmal eine längere Auszeit gönnen. Solche Zeiten muss man sich selber nehmen. Die Umwelt sorgt nicht dafür. Die Gesellschaft ist da unerbittlich. Es gehört ja heute zum guten Ton, erschöpft zu sein. Ausgeglichene und glückliche Menschen scheinen suspekt.
Zu einem anderen Thema: Sind die Kirchen zu laut?
Ja. Weil die Pfarrerinnen und Pfarrer befürchten, ihre Gottesdienstbesucher an die Unterhaltungsindustrie zu verlieren, setzten sie auf Unterhaltsamkeit. Die Kirche sollte den Mut haben, andere Akzente zu setzen und den Leuten die Stille zumuten. An einzelnen Orten geschieht dies inzwischen: Etwa in den Taizé-Gottesdiensten. In Hamburg gibt es eine «Kirche der Stille». Täglich treffen sich dort Meditationsgruppen. Am Wochenende finden Seminare mit bis zu hundert Teilnehmenden statt. Das Bedürfnis nach Stille und Meditation ist vorhanden.
und wird von der Kirche nicht wahrgenommen.
Die Kirche überlässt dies zu leichtfertig anderen Institutionen.
Interview: Tilmann Zuber
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