Die Wanderpfarrerin
Wie eine Schutzhütte in den Bergen duckt sich die «Cabane» zwischen Gleis und Treppe im Métro-Bahnhof Flon. Ein hässlicher Ort, aber in der Hütte ist es schön: ein Tisch mit Bänken, Stühle, ein Kreuz, ein Piano, Kerzen, Ikonen, Zeichnungen. Der Bahnhof ist Durchgangsstation Tausender Pendler. Jugendliche trinken sich hier warm, er ist Aufenthalt für Leute, die nicht wissen wohin.
Immer gibt es Kaffee
An diesem unwirtlichen Ort hält Pfarrerin Hetty Overeem ungefähr an jedem zweiten Wochenende die «Cabane» offen. Von frühmorgens bis spät. Mehrmals täglich hält sie Andacht. Manchmal allein: «Das habe ich mit Gott abgemacht, dass ich trotzdem mit ihm rede und singe, auch wenn niemand hier ist.» Wenn keine Andacht ist, gibt es Kaffee, etwas zum Knabbern, Wärme und ein offenes Ohr.
Oft aber tröpfeln Leute herein, wie jetzt zwei rumänische junge Männer. Einer erzählt, er habe Arbeit gefunden. Er strahlt, mit ihm die Pfarrerin. Oft, so erzählt Overeem, bitten Leute um Hilfe: «Madame, ich brauche ein Passfoto, aber der Apparat funktioniert nicht ...» Wenn sie hin und wieder abends zum Fondue einlädt, hört sie vieles: Jugendliche erzählen vom Leben in ihren Jugendbanden, dass diese manchmal die Familie ersetzen.
Entstanden ist die Hütte als Winterquartier für die Nomadenpfarrerin. Jetzt ist sie das ganze Jahr offen. Im Sommer zieht Hetty Overeem nämlich häufig von Freitag bis Sonntag mit Esel und Hund Barou über Land. Immer wieder woanders stehen dann ihr Eselwagen und das Tipi, in das sie zum Gottesdienst einlädt. Warum predigt sie nicht in einer ganz gewöhnlichen Kirche? «Das ist gerade der Knackpunkt», sagt Overeem. «Ich bin beim Umherziehen keine geschützte Gemeindepfarrerin, sondern meist eine müde, hung-rige, oft verregnete Frau. Ich muss die Leute um Hilfe bitten. Das öffnet ihre Herzen.»
Oft kämen Leute, die mit der Kirche nichts zu tun haben möchten. Aber sie schenken der Pfarrerin ihre Hilfe. «Das gibt ihnen einen ganz anderen Wert», sagt Overeem. «Sie fühlen sich nicht klein gegenüber einer offiziellen Amtsvertreterin, denn sie bieten mir etwas.» Oft kämen die Leute ins Erzählen: Dass sie jemanden verloren hätten, dass sie alleinerziehend seien, dass sie hart arbei-teten. Mit einer frierenden Frau mit zwei Tieren könne man reden. Das ist für die Pfarrerin, die in den Niederlanden aufgewachsen ist, kein Zufall. «Auch Jesus war hungrig und müde und bat um Hilfe. Das machte die Leute hellhörig für seine Botschaft.»
«Ich setze mich aus», sagt Ov-reem. Nicht nur auf der Wanderung. Auch in der «Cabane». Diese ist manchmal Zielscheibe von Aggressionen. Betrunkene poltern gegen die dünnen Wände. Die Jugendlichen, die sich früher an der Stelle getroffen hatten, fühlten sich zuerst provoziert. Aber das hat geändert: Als ein Journalist die Jugendlichen befragte, wie sie die «Cabane fänden, sagte einer: «Sie ist uns wichtig. Denn sie ist immer da.»
Wo die Pfarrerin gerade Tipi oder Cabane offenhält, findet man auf: www.evangile-en-chemin.ch.
Zum Bild: Hetty Overeem beschreitet wörtlich neue Wege der Verkündigung. Unterwegs wird sie von Esel Speedy und Hund Barou begleitet. Über ihre Tätigkeit hat sie ein Buch «Die Wanderpfarrerin» (Neukirchener Verlag) geschrieben. | zvg
Barbara Helg
Die Wanderpfarrerin