Erlösung am Ende vom Lied
«Er kann die Leute nicht überzeugen, nur beeindrucken.» So beschreibt Rivka Klein, die Frau des ermittelnden Rabbiners, ihren Mann Gabriel, in Alfred Bodenheimers neuem Krimi «Das Ende vom Lied». Für Bodenheimers ersten Krimi «Kains Opfer» hätte dieses Urteil zugetroffen, für seinen zweiten nicht. Er ist beeindruckend und überzeugend zugleich.
Verwickelte Handlung
Eine Frau aus der Jüdischen Gemeinde Zürich gerät im Bahnhof Enge unter den Zug. Suizid oder Unfall? Nach und nach ergeben die Ermittlungen, dass es sich um einen Mord handelt und das Opfer, Carmen Singer, vor den unplanmässig durchfahrenden Zug gestossen wurde. Es entwickelt sich eine Geschichte geprägt von Falschaussagen, Insidergeschäften, Erbstreitigkeiten, Erpressung und Liebe. Was auffällt ist, dass die Handlung im Wesentlichen im jüdischen Milieu spielt und nur wenige Berührungspunkte zur «restlichen» Gesellschaft aufweist.
Der Buchtitel «Das Ende vom Lied» spielt auf das Hohe Lied der Liebe an, dessen letzter Vers in mehrfacher Hinsicht einen roten Faden durch die Geschichte zieht. Es ist Gegenstand von Briefen eines Arztes, der in Theresienstadt seine über alles geliebte Frau verloren hat. Der letzte Vers des Hohen Liedes trifft aber auch auf eine Affäre zu, die Rabbiner Gabriel Klein mit Carmen Singer hatte. Ihr Vorname ist Programm. Beim Lateinischbüffeln mit seiner Tochter lässt er sie den Satz «Ich habe das Ende des Lieds vergessen» übersetzen, wobei das lateinische Wort für Lied «Carmen» heisst. Finis Carminis das Ende vom Lied oder eben Carmens Ende. Eine raffiniert ins Ganze eingebundene Episode.
Jüdisches Leben live
Der letzte Vers des Hohen Lieds ist Bestandteil des Pessachgebets. Der Krimi des Professors für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel gibt ganz nebenbei einen guten Einblick in das Leben gläubiger Juden und lässt Nichtjuden über die reiche Tradition staunen, manchmal auch schmunzeln.
«Das Ende konnte immer nur Erlösung sein», stellt Rabbi Klein fest, nachdem er den letzten Vers im Tanach gelesen hatte. Im Falle seiner Affäre, weil die Stalkerin Carmen Singer ihn nicht mehr belangen konnte. Im Fall des Arztes, weil er erkannte, dass seine grenzenlose Liebe zu seiner Frau der Liebe Israels zu seinem Gott entsprach. Die (Er-)Lösung und damit das Ende vom Lied kommt unerwartet und überraschend. Alfred Bodenheimers zweiter Krimi liest sich flüssig, die Spannung bleibt bis zum Schluss erhalten. Beim Lesen des letzten Satzes stellt sich eines nicht ein: das Gefühl von Erlösung. Für die Krimis mit Gabriel Klein steht die Erlösung am Anfang: Wenn man mit dem Lesen des ersten Satzes wieder in die jüdische Welt des Gabriel Klein eintaucht.
Zum Bild: Der Bahnhof Enge ist Schauplatz des Mordes in Alfred Bodenheimers zweitem Krimi «Das Ende vom Lied». |Peter Hug
Alfred Bodenheimer, Das Ende vom Lied. Nagel-Kimche, ISBN 978-3-312-00648-9, 26.90 Franken
Franz Osswald
Erlösung am Ende vom Lied