Warum der IS Frauen und Jugendliche anzieht
Letzte Woche meldete die Terrorismus-Taskforce des Bundes, dass die Zahl dschihadistisch motivierter Reisen aus der Schweiz weiter zunehme. Vermehrt reisten nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Minderjährige in die Konfliktgebiete. Insgesamt zählt der Bericht der Taskforce bis Oktober 40 Fälle von Dschihad-Reisenden, zehn mehr als im Februar, darunter Frauen und Kinder.
Georg Schmid erstaunt das nicht. Der Leiter der Evangelischen Informationsstelle Kirchen-Sekten-Religionen berät viele besorgte Eltern, die ihn kontaktieren, weil ihre Kinder Anzeichen einer Radikalisierung zeigen. Die Jugendlichen stammten aus zwei Gruppierungen. Die eine besteht aus traditionellen oder liberalen Muslimen. Die zweite aus nichtreligiösen Familien.
Ausgrenzung radikalisiert
Die erste Gruppe hat sich in Europa integriert und verbindet ihren Glauben mit der westlichen Gesellschaft. Ihre Söhne und Töchter sind entsprechend aufgewachsen. «Doch die Kinder erfahren während der Schulzeit, wie sie als Muslime an den Rand gedrängt werden», erklärt Schmid. «In einer Trotzreaktion beschliessen sie, erst recht Muslim zu werden, und suchen den Kontakt zu den radikalen Salafisten.»
Das Gefühl der Jugendlichen, benachteiligt zu werden, verdichte sich zur Einsicht, die westliche Gesellschaft sei schlecht und müsse bekämpft werden. Schmid fordert, dass junge Muslime die gleichen Chancen erhalten, aus ihrem Leben etwas zu machen wie andere. «Die Ablehnung und das Gefühl, nicht erwünscht zu sein, bilden den Nährboden des Islamismus.»
Ausbruch aus der Familie
Auch die patriarchale Struktur der muslimischen Familien begünstige die Radikalisierung, so Georg Schmid. Im traditionellen Islam schuldeten die Kinder dem Familienoberhaupt und dem älteren Bruder Respekt und Gehorsam. Der Beitritt zu den Salafisten ermögliche es ihnen, sich aus der Familie zu lösen. Aus salafistischer Sicht gelten der Vater und der Bruder wegen ihrer traditionellen Glaubensauffassung als Ungläubige. «Radikale Muslime sind nicht der Autorität der Familie unterstellt. Für Jugendliche ist dies attraktiv», stellt Schmid fest. «Wie bei traditionellen Sekten ermöglicht ihnen dies, aus der Familienstruktur auszubrechen.»
In betont konservativen muslimischen Familien seien die jungen Frauen oft in ein starres Korsett eingezwängt, das ihr Leben streng reguliert und überwacht. Sie erlebten jedoch täglich, wie ihre Brüder und Cousins machen können, was sie wollen. «Das verhält sich bei den Salafisten anders», sagt Georg Schmid. «Frauen und Männer müssen sich gleichermassen an die Gebote halten.» Frauen erhielten beim Islamischen Staat IS die Chance, sich aktiv an der Errichtung des Kalifats zu beteiligen. Die Organisation benötigt laut dem Bericht der Taskforce neben Kämpfern auch logistische Unterstützung, IT-Spezialisten, Lehrerinnen oder medizinisches Personal.
Areligiöses Elternhaus
Die zweite Gruppe von Jugendlichen, die sich vom radikalen Islam angezogen fühlt, stammt aus einem areligiösen Elternhaus. Auch sie haben spirituelle Bedürfnisse. «Doch ihnen fehlen die religiösen Vorbilder», meint Georg Schmid. Sie hätten nie gelernt, wie sie den Glauben und den Alltag miteinander verbinden können. Oftmals seien gerade Kinder, die bewusst ohne religiöse Bildung aufwuchsen, später anfällig für Sekten und Verschwörungstheorien.
Für Georg Schmid bildet die religiöse Erziehung die beste Prävention gegen radikale Entwicklungen. Jugendliche, die sich den Salafisten anschliessen, zeigten oft ein enormes Defizit in der Glaubensbildung. Sei es, weil die Eltern die religiöse Weltanschauung nicht vorgelebt hätten oder weil die Schule das entsprechende Wissen nicht vermittelt habe.
Die Rolle der Moscheen
Eine Radikalisierung könne an den unterschiedlichsten Orten stattfinden, schreibt die Taskforce, unter anderem im Umkreis von religiösen Vereinigungen. Auf die Rolle der Moscheen angesprochen, erklärt Georg Schmid, diese sei unterschiedlich. Manche jungen Leute aus säkular-muslimischem Haus würden in ihrer Moschee von dort verdeckt operierenden salafistischen Werbern angesprochen. Andere radikalisierten sich übers Internet. Häufig liege eine Kombination vor: «Der junge Mensch erfährt über die einschlägigen salafistischen Webseiten von Moscheen im Umfeld, wo sich Salafisten treffen, und schliesst sich dann der dortigen Gruppe an.»
Die Leitungen der betreffenden Moscheen versuchten, die Tätigkeit salafistischer Werber in ihren Räumen zu unterbinden, sagt Schmid, «allerdings mit unterschiedlichem Erfolg und auch mit unterschiedlichem Engagement». So seien Salafisten in manchen Moscheen, die dem saudi-arabischen Wahabismus nahestehen, durchaus geduldet, «solange sie nicht zu öffentlichem Wirbel Anlass geben».
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
Zum Bild: Deutsche Jugendliche unter dem Banner des Islamismus.
Foto: epd-Bild
Tilmann Zuber, Karin Müller / Kirchenbote / 11. November 2015
Warum der IS Frauen und Jugendliche anzieht