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«Der arabische Frühling ist noch lange nicht zu Ende»

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20.01.2020
Trotz chaotischer Bilder aus der libanesischen Kapitale Beirut hofft der Theologe Fadi Daou auf eines: Die lang andauernden Proteste werden zu einem Wandel des libanesischen Staates führen – ohne Korruption und ohne religiösem Machtproporz.

Als Fadi Daou am Samstag, 18. Januar, in der Zürcher Zentrale von Heks das Interview gab, ahnte er nicht: Wenige Stunden später würde Beirut die Schlagzeilen der Weltöffentlichkeit beherrschen. Spezialeinheiten der Polizei schossen mit Tränengas und Gummikugeln, Demonstranten warfen Steine und Feuerwerkskörper und manche zertrümmerten mitten im Chaos die Schaufenster der Bankfilialen. Einen Tag später mailte der katholisch-maronitische Theologe seine Analyse: Bevor der mit der Regierungsbildung beauftragte Universitätsprofessor Hassan Diab ein neues Kabinett bilden kann, sollten nach dem Willen der hochgerüsteten und politisch einflussreichen schiitischen Hisbollah-Miliz erst einmal die Protestcamps und Zeltlager aus dem Stadtbild Beiruts verschwinden. Fadi Daou hofft, dass die Widerstandskraft der zumeist friedlichen Demonstrierenden auch nach drei Monaten des Protests nicht erlahmt.

Was hat die Protestbewegung vor drei Monaten auf die Strasse gebracht?
Angefangen hat der Protest mit der Forderung, die neue Steuer für Messenger-Dienste wie WhatsApp wieder zurückzunehmen. Die Abgabe war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Aber bald ging es um Korruption, um die Politiker, die Millionenbeträge in ihre eigenenTaschen abzweigen.

Soll also das ganze politische System von Grund auf erneuert werden?
Genau. Den Demonstrierenden geht es nicht nur um eine Wirtschaftsreform, sondern um das ganze korrupte System. Eine neue Verfassung soll die bisher auf religiöse Quoten beruhende Machtverteilung aufheben. Denn der Proporz führte dazu, dass die Bürgerkriegs-Warlords nach dem Waffenstillstand 1991 die politische Führung übernehmen konnten.

Warum aber haben sich die immer gleichen Familien solange an der Macht halten können?
Das alte Argument der Parteiführer zog bei den Meisten: Nur wenn ich an der Macht bleibe, ist die Sicherheit der Christen, der Drusen, der Schiiten oder Sunniten garantiert. Das zieht jetzt nicht mehr, speziell bei den Jungen nicht, also der Generation, die nach dem Ende des Bürgerkriegs geboren wurde. Die Jungen sagen: «Ihr beschützt uns nicht. Ihr bestehlt uns!»

Und wie bestehlen die Eliten das Volk?
Symptomatisch dafür steht die Elektrizitätsversorgung. Stromunterbrüche prägen unseren Alltag. Deshalb müssen wir von privaten Firmen, die Generatoren mit Diesel betreiben, Strom für teures Geld beziehen. Eigentlich braucht es nur wenige Millionen Dollar, um ein funktionierendes Elektrizitätswerk zu bauen. Aber die staatliche Gesellschaft ist extrem verschuldet und zahlt jährlich alleine 1,5 Millionen Dollar Zinsen. Daran bereichern sich die korrupten Eliten.

Das müssen Sie erklären, wie das Geld in die Taschen der Politiker kommt.
Zum einen sind sie oft Teilhaber an den Banken und profitieren von dem hohen Prozentsatz für die Schuldzinsen. Zum anderen sind sie oft beteiligt an den Firmen, die mit den Dieselgeneratoren arbeiten. Ein System der permanenten Selbstbereicherung, das sie natürlich nicht einfach abschaffen wollen.

Lange Zeit hat der libanesische Staat, der die politische Macht nach religiösen Quoten aufteilt, als Modell für ein friedliches Miteinander von Muslimen und Christen gegolten.
Was es eben definitiv nicht ist. Das System beruht nicht auf einem Miteinander, sondern auf Misstrauen. Dieses System hat sich zum besten System für die Selbstbereicherung der Eliten entwickelt.

Also fordern Sie ein laizistisches System à la Frankreich?
Keineswegs. Wir denken oft, dass es entweder einen religiös begründeten Staat gibt wie in vielen Ländern in der arabischen Welt oder einen säkularen Staat wie im Westen. Unsere Organisation Adyan schlägt einen dritten Weg vor. Es braucht eine Staatsbürgerschaft, die jedem Bürger seine ethnische oder religiöse Identität zubilligt und auch schützt. Also die Vielfalt wird anerkannt, in der ethnische wie religiöse Minderheiten ihre Identität ohne Versteckspiel öffentlich zeigen können.

Ihr Modell klingt gut, scheitert aber an der politischen Realität, beispielsweise, dass die schiitische Hizbollah als Miliz zu einem Staat im Staate von Libanon herangewachsen ist.
Das Hizbollah-Problem lässt sich tatsächlich kaum auf nationaler Ebene lösen, sondern nur international. Hizbollah ist eine Miliz, die in Syrien und im Irak operiert, die Waffen und Befehle vom Iran erhält. Die Zivilgesellschaft muss sich auf Kompromisse einlassen. Aber wir sehen jetzt schon: Die bis dahin geschlossene schiitische Gemeinschaft zeigt in den Zeiten des Protests Risse.

Ein Phänomen, das sich auch im Irak zeigt, wo jetzt viele junge Schiiten gegen die eigene Elite demonstrieren.
Dieser Graben zwischen den Generationen ist eine ganz eindrucksvolle Erfahrung der letzten Jahre, den wir nicht nur im Libanon oder im  Irak ausmachen, sondern in der ganzen arabischen Welt. Das Bedürfnis der Jungen, in einer pluralistisch aufgebauten Gesellschaft zu leben, ist sehr gross. Für mich zeigt sich darin, dass der arabische Frühling längst noch nicht zu Ende ist.

Delf Bucher, reformiert.info, 20. Januar 2020

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