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Die Diktatur der Perfektion

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01.01.2016
Warum ist «gut» nie gut genug? Ein Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Wiebicke über den Zwang, immer besser zu werden und Fluch und Segen des Perfektionismus.

Herr Wiebicke, der Januar ist der Monat der guten Vorsätze. Wir nehmen uns vor, mehr Sport zu treiben, beginnen eine Diät, wollen gesünder leben. Ist das schon die Perfektionierung, vor der sie warnen?
Ich würde das nicht überschätzen. Dass man sich am Jahreslauf orientiert und überlegt, was will ich im kommenden Jahr anders machen, das würde ich noch nicht als übertriebene Selbstoptimierung bezeichnen. Das Schöne an diesen Vorsätzen ist ja, dass sie oft so herrlich inkonsequent sind.

Perfektionismus fängt im Kleinen an. Immer mehr Menschen machen zum Beispiel aus gesundem Essen fast eine Religion. Wo ziehen Sie die Grenze, was noch okay ist Vitamin-Smoothie ja, Psychopille nein?
Das Wort «Religion» trifft den Kern. Der ganze Optimierungsdruck hängt stark damit zusammen, dass wir meinen, aus einem diesseitigen Leben möglichst viel herauspressen zu müssen. Wenn man nicht mehr mit der Gewissheit lebt, dass es ein Jenseits und ein jenseitiges Leben gibt, dann wächst der Druck, möglichst alles aus dem diesseitigen Leben herauszuholen. Das ist eine Ursache vom Optimierungswahn, wenn auch nicht die einzige.

Was wären anderen?
Die Hauptwurzel des Optimierungsgedankens liegt in unserer Art zu wirtschaften und zu arbeiten. Wir leben mit der Steigerungslogik, dass wir im kommenden Jahr mehr erwirtschaften müssen als in diesem Jahr. Das bedeutet, dass wir uns permanent mehr anstrengen und mehr leisten müssen. Heute gehen wir nicht einfach nur arbeiten, sondern verausgaben uns mit der ganzen Persönlichkeit in der Arbeit.

Ärzte, Forscher und Pharmaindustrie versprechen, uns bei unseren Anstrengungen zu unterstützen. Das tönt doch erstmal gut?
Bisher galt: Man gibt dem Kranken, was dem Kranken hilft. Heute erleben wir einen Sprung zu einer «wunscherfüllenden Medizin». Es werden mehr und mehr Präparate für Gesunde entwickelt. Nicht nur Kranke, sondern auch Gesunde sind plötzlich unzufrieden mit ihrem Zustand. Hier wird es problematisch.

Der Wunsch, Leben zu optimieren, beginnt heute schon vor dem Geborensein. Stichwort «Pränataldiagnostik». Eltern, die ein behindertes Kind bekommen, müssen sich fast rechtfertigen.
Das wird sich weiter verschärfen. Leider ist es so, dass Philosophen und Bioethiker hier ihre Beiträge leisten, in dem sie unsere moralischen Begriffe umwerten. Es gibt Bioethiker, die sagen, es sei die moralische Pflicht von Eltern, nicht nur das Beste für ihr Kind zu tun, sondern das bestmögliche Leben von vornherein auszuwählen. Das ist eine Argumentation für Selektion.

Wie kommt es zu solch einem Wandel?
Wer neue Optionen hat, nutzt sie auch. Es werden Bedürfnisse geschaffen. Schauen Sie die Schwangerschaftsvorsorge an. Dort sind viele Diagnostiken Routine, ohne dass vorher gesagt wird, was die moralischen Konsequenzen der Diagnosen sind. Das bedenkenlose Inanspruchnehmen von biotechnologischen Möglichkeiten ist das eigentliche Problem.

Im Vergleich zu unseren Vorfahren haben wir viel mehr freie Zeit. Doch anstatt sie zu geniessen, versuchen wir auch Familie und Freizeit bis ins Letzte zu optimieren. Warum sagen wir nicht einfach: Ich bleibe jetzt so, wie ich bin?
Das werden wir nicht hinbekommen und das sollten wir auch nicht wollen. Der Impuls, sich zu verändern, mehr aus sich zu machen, Talente zu entwickeln, zu üben, gehört ganz wesentlich zum Menschsein. Nur dies in einem technischen Sinne zu verstehen und zu meinen, die Natur des Menschen verändern zu können, in dem wir uns als Baukasten oder Maschinenwesen begreifen, an dem wir rumschrauben, ist problematisch.

Wem dient diese Selbstausbeutung? Sind wir in einem optimierten Körper wirklich glücklicher?
Den Menschen machen viele Eigenschaften aus, die man nicht mit Zahlen und Werten messen und in diesem Sinn auch nicht optimieren kann. Es entwickelt sich langsam ein Bewusstsein für die Problematik. Gegenbewegungen, wie die der Entschleunigung, sind entstanden. Nur muss man hier aufpassen, nicht ins Gegenteil zu verfallen. Wenn man als Manager drei Tage ins Kloster geht, um ein Entschleunigungsprogramm zu absolvieren, ist das nichts anderes, als Effizienzsteigerung durch Meditation.
Für mich lautet die Leitfrage: Werden wir auf Dauer damit zufrieden sein, immer nur unsere Stärken weiter zu stärken und im Unfrieden mit unseren Schwächen zu leben und den Schwächen anderer? Das führt letztlich zu einer erbarmungslosen Gesellschaft, einer Gesellschaft der Sieger.

Wie passt es zusammen, dass wir durch die Medizin eine radikale Lebenszeitverlängerung haben und zugleich ein vehementer Kampf ums Recht zu Sterben geführt wird?
In meiner Wahrnehmung ist das gar kein Widerspruch. In einer Gesellschaft der Starken gibt es eigentlich nur noch zwei Zustände, entweder man ist fit oder tot.

Darf ich nicht auch einmal schwach sein und frei sein von dem Zwang, mich unbedingt zu verbessern?
Das Paradoxon ist, dass wer Schwäche selbstbewusst vertreten will, Stärke braucht. Er muss sich gegen den Strom der Zeit stellen. Wir müssen den gesellschaftlichen Blick dafür schärfen, dass wir Schwäche als Teil der menschlichen Existenz aushalten lernen.

Das Christentum bietet hier eine Alternative an. Es nimmt Menschen auch in ihrer Unvollkommenheit und Hilflosigkeit an.
Ich finde das eine grossartige Vorstellung, dass man Stärke daraus gewinnen kann, indem man in die Schwäche geht. Doch ist das ein sehr anspruchsvoller Gedanke, der es im Moment schwer hat.

Wie können Menschen aus dem Selbstoptimierungs-Karussell ausbrechen?
Indem wir Optionen ausschlagen, «Nein» sagen. Praktischer Vorschlag: Organtransplantationsausweise wegschmeissen. Denn damit akzeptieren wir einen Teil dieses problematischen Menschenbildes: indem wir zwischen dem bewussten und unbewussten ­Leben unterscheiden. Das bewusste Leben ist das gute Leben und das hirntote Leben ist kein Leben mehr. Indem wir das akzeptieren, haben wir all die Logiken, den Körper als Material und Handelsware zu betrachten, akzeptiert.

Interview: Annette Meyer zu Bargholz


Jürgen Wiebicke, geboren 1962, studierte Philosophie und Germanistik. Bei WDR 5 moderiert er jeden Freitagabend «Das philosophische Radio», die einzige interaktive Philosophie-Sendung im deutschsprachigen Hörfunk. Wiebicke ist Autor des Buches «Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? Gegen die Perfektionierung des Menschen eine philosophische Intervention». Köln, 2013, Fr. 23.90. Auf Einladung der Hochschul-seelsorge referierte er kürzlich in Luzern.

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