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«Was hat Allah eigentlich gegen Damenfrisuren?»

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01.01.2016
Emel Zeynelabidin, Vordenkerin für Musliminnen in Deutschland, brach vor zehn Jahren aus ihrer traditionellen Rolle aus und legte das Kopftuch ab. Tochter Sümeyye vollzog den gleichen Schritt vor einem halben Jahr.

Bis zu ihrem 44. Lebensjahr verlief ihr Leben in geordneten Bahnen. Emel Zeynelabidin erfüllte die Erwartungen ihrer muslimischen Familie: Heirat mit 20, Studium von Anglistik und Islamwissenschaft. Sie bekommt sechs Kinder, wird Vorsitzende eines islamischen Frauenvereins und Mitbegründerin von islamischen Kindergärten und einer Grundschule in Berlin. 2005 kommt sie an einen Wendepunkt in ihrem Leben und macht alles, was einer strenggläubigen Muslimin eigentlich verboten ist: Sie verlässt die arrangierte Ehe, liebt einen neuen Mann und legt das Kopftuch ab, das sie trägt, seit sie zwölf ist.

Frau Zeynelabidin, warum haben Sie sich vor fast zehn Jahren entschieden, das Kopftuch abzulegen?
Eine afghanische Lehrerin hatte 2004 vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, dass sie mit Kopftuch unterrichten darf. Als damalige Vorsitzende des islamischen Frauenvereins in Berlin wurde ich dazu befragt. Das hat mich zum Nachdenken über meine eigene Verhüllung gebracht.

Haben Sie das Kopftuchtragen vorher je hinterfragt?
Nein, ich lebte bis dahin ein ruhiges, gutes Leben. Ich war verhüllt, fühlte mich aber weder dumm noch unterdrückt, wie es Musliminnen oft unterstellt wird. Die Reaktionen meiner Glaubensgeschwister auf die Kopftuchdebatte haben mich allerdings verwundert. Anstatt sich näher mit dem Thema zu befassen, wurde geklammert, nach dem Motto «Dann trage ich das Kopftuch erst recht».

Bei Ihnen führte der Weg in die andere Richtung.
Zunächst zu einer Hutmacherin weil ich Lust hatte, zu experimentieren. Was kann ich mir um den Kopf hüllen, das nicht so langweilig aussieht? Sie kreierte verschiedene «Kopfschmuckmodelle», wie ich sie taufte, für mich: ein Kapuzen-, ein Hauben- und ein Hutmodell.

Doch das befriedigte Sie nicht . . .
Nein, ich wurde immer neugieriger und habe dann im Wartezimmer vom Arzt oder bei Veranstaltungen die Kopfbedeckung ganz weggelassen.

Welche Erinnerungen haben Sie an den ersten Tag ganz ohne Kopftuch?
Mir war vor allem kalt. Drei Jahrzehnte hatte ich immer draussen etwas um den Kopf und dann plötzlich nicht mehr. Mehrere Winter hintereinander hatte ich Ohrenprobleme.

Was für Erfahrungen machten Sie noch?
Sehr schöne. Ich kann heute viel mehr mit meiner Identität spielen. Ich kann mich ausgeben, als was ich will. Niemand sieht mir meine Herkunft an. Jede Frau sollte die Vielfalt, die sie repräsentieren kann, kennenlernen. Es kann nicht Gottes Wille sein, den Frauen diese Erfahrung zu nehmen.

Ein ewiges Streitthema: Wird das Kopftuchtragen vom Koran nun vorgeschrieben oder nicht?
Nur zwei von über 6000 Versen befassen sich damit. In Sure 24 heisst es, dass Frauen «ihre Tücher um ihre Kleidungsausschnitte schlagen sollen». Anlass dieser Offenbarung war ein Unfall: Ein Mann verguckte sich an einem schön geschmückten Dekolletée einer Frau, lief gegen ein Hindernis und verletzte seine Nase.
Die zweite Stelle bezieht sich auf Sure 33, auch diese rät den Frauen, ihre «Übergewänder reichlich über sie zu ziehen, damit sie erkannt und nicht belästigt werden». Hier ging es um die optische Unterscheidung gläubiger Frauen von Sklavinnen.

Es geht also um Reizneutralisierung und ein Erkennungsmerkmal?
Der Koran ist eine göttliche Quelle mit eigener Geschichte. In damaliger Zeit sollte er vor allem als Orientierung für die Gesellschaft dienen, nicht als Gesetz für die Menschheit. Leider ist es heute noch ein Tabu, die religiösen Quellen geschichtlich zu diskutieren und sie auf ihre gesellschaftliche Brauchbarkeit kritisch zu überprüfen.
Ich wünsche mir, dass die Debatte realitätsnäher geführt wird. Jede Frau liebt ihre Haare. Was hat Allah eigentlich gegen Damenfrisuren?

Wird zwischen islamischen Frauen und Männern darüber diskutiert?
Nein. Dabei müssten die Frauen die Männer fragen «Braucht ihr noch die Verhüllung, so wie vor 1400 Jahren?»
Da die Frauen durch die Kopfbedeckung als Musliminnen erkennbar sind, stehen sie bei allen Islamdebatten im Fokus und sind so auch Zielscheibe für tätliche Angriffe geworden. Dennoch handelt niemand, das ist schlimm.

Sümeyye Algan, warum haben Sie zehn Jahre gewartet, bis sie den gleichen Entschluss fassten wie Ihre Mutter?
Ich wollte eine eigenständige Entscheidung treffen.

Zumal Sie auch die negativen Folgen der Enthüllung Ihrer Mutter miterlebten.
Sümeyye: Die Reaktionen, gerade die von vermeintlichen Freunden, brachten mich zum Grübeln. Ich war mir der Konsequenzen bewusst und habe sie gefürchtet: den Ruf zu verlieren, die Trennung von der Familie.
Emel: Mir war das völlig egal. Ich habe mich nicht gebremst. Die Kraft habe ich damals aus einer neuen Liebe gezogen.
Sümeyye: Und ich aus meinem Glauben.

Frau Algan, war der Schritt für Sie im Jahr 2014 leichter?
Sümeyye: Nein, es ist nach wie vor ein Tabu unter Muslimen.
Emel: Viele wägen die Konsequenzen ab und entscheiden sich dann dagegen. Oder machen es heimlich. Das wurde mir damals auch geraten.

Doch ohne den Schritt an die Öffentlichkeit können keine Impulse an andere Frauen ausgehen.
Emel: Darum schreibe ich Texte und Bücher und nehme an Podiumsdiskussionen teil.
Sümeyye: Für mich bleibt es ein privates Thema. Durch mein Handeln sende ich ja auch im nahen Umfeld Impulse aus und rege Freundinnen zum Nachdenken an.

Gibt es eigentlich eine muslimische Frauenbewegung?
Emel: In Amerika und Kanada, ja. Aber nicht in Deutschland. Da haben wir ja etwas vor . . . (lacht).

Wünschen Sie sich mehr Unterstützung durch die Politik? Sollte diese das Kopftuchtragen verbieten?
Emel: Ein Verbot wäre lächerlich. Frauen sollten den Schritt freiwillig und aus Überzeugung tun, in ihrem eigenen Tempo. Der Staat sollte vielmehr vom organisierten, männerdominierten Islam die Aufklärung der Frauen fordern. Die Wissenslücken, wie ich sie auch hatte, müssen geschlossen werden. Dann können die Frauen eine Entscheidung treffen.


Zum Bild: Legte das Kopftuch ab und nahm dafür die Spaltung der Familie in Kauf: Emel Zeynelabidin. | mzb

Annette Meyer zu Bargholz


Streitbare Publizistin in der Schweiz: Emel Zeynelabidin hält Vorträge und publiziert Texte und Bücher, um ihre Sicht zum Kopftuch und reformbedürftigen Religionsverständnis des Islam darzulegen. Am Freitag, 14. November, 19.30 Uhr, sind ihre Tochter und sie in Luzern. Im Zentrum «Der MaiHof» wird der Dok-Film «Hüllen» gezeigt und diskutiert. Er gibt einen Einblick in das Leben von Emel Zeynelabidin, ihrer Mutter und ihrer Tochter.

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