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«Der Rechtsstaat muss alle Religionen gleich behandeln»

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01.01.2016
Wenn Privilegien, dann für alle: Der ehemalige Bundesrichter Giusep Nay plädiert für die staatliche Gleichbehandlung von Religionsgemeinschaften inklusive der Muslime.

Giusep Nay, Sie sprachen kürzlich an der Universität Luzern über das Verhältnis von «Staat und Religion was sie verbindet, was sie trennt». Wie sehen Sie dieses Spannungsfeld, das ja auch heute noch regelmässig für Diskussionen sorgt?
In unserer Gesellschaft musste und muss immer wieder ausgehandelt werden, welchen Platz die Religion in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat einnehmen soll. Da spielt einerseits das Grund- und Menschenrecht der Religionsfreiheit und das aus ihr fliessende Neutralitätsgebot des Staates eine zentrale Rolle. Anderseits ist grundsätzlich auch eine institutionelle Trennung von Staat und Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften unverzichtbar.

Das bedeutet aber noch nicht, dass Staat und Religion in der Schweiz gänzlich voneinander getrennt wären, wie das im laizistischen Frankreich der Fall ist...
Ja, das ist so. Das Neutralitätsgebot des Staates hat nach unserem Verständnis in der Schweiz nicht den Sinn, das Religiöse völlig aus seinem Bereich auszuschliessen. Es verlangt deshalb auch keine strikte Trennung von Staat und Religion im Sinne des Laizismus, sondern erlaubt eine positive Haltung religiösen Kräften gegenüber, indem Kirchen und andere Religionsgemeinschaften in ihrem Wirken auch gefördert und unterstützt werden können.

Inwiefern hat der Staat ein Interesse an der Unterstützung von Religionsgemeinschaften?
Der Staat ist heute gerade auf jene gesellschaftlichen Kräfte besonders angewiesen, welche für Werte einstehen, ohne die keine Demokratie funktioniert. Diese Erkenntnis hat auch der bekannte deutsche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde mit einer viel zitierten Aussage auf den Punkt gebracht: Der freiheitliche säkulare Staat lebe «von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen». Als freiheitlicher Staat könne er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und vom Zusammenhalt der Gesellschaft her reguliert.

Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
In der Folge sollen vom Staat alle gesellschaftlichen Kräfte gefördert werden, welche jene Werte pflegen und weitergeben, die als Grundlage einer freiheitlichen Rechtsordnung unverzichtbar sind.
Wenn der religiös und weltanschaulich pluralistische Staat alle diese relevanten Kräfte in rechtsgleicher Weise unterstützt, verletzt er sein Neutralitätsgebot gegenüber dem Religiösen nicht. Ein wesentlicher Faktor ist dabei das System der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften, die in der Folge vom Besteuerungsrecht profitieren können.

Werden aber durch solche «Privilegien» nicht Rechtsungleichheiten geschaffen, die den Prinzipien des Rechtsstaates widersprechen?
Von Rechtsungleichheit kann man insofern nicht sprechen, als das Angebot, eine Körperschaft zu bilden und so die öffentlich-rechtliche Anerkennung zu erlangen, allen Religionsgemeinschaften gegenüber besteht. Konsequenterweise müssten heute in der Schweiz auch die muslimischen Religionsgemeinschaften die öffentlich-rechtliche Anerkennung erhalten, da sie mit ihren über 300 000 Mitgliedern inzwischen eine beachtliche öffentliche Bedeutung erlangt haben. So sind derzeit denn auch von Seiten der Muslime Bestrebungen im Gange, entsprechende Körperschaften zu bilden, die eine öffentlich-rechtliche Anerkennung erlauben würden.
Ist die öffentlich-rechtliche Anerkennung von muslimischen
Religionsgemeinschaften politisch überhaupt umsetzbar angesichts der gegenwärtigen islamkritischen Stimmung in der Schweiz?
Gerade die negative Stimmung wäre ein Grund dafür, die Möglichkeiten einer öffentlich-rechtlichen Anerkennung ernsthaft zu diskutieren. Denn es ist die absolute Pflicht des demokratischen Rechtsstaates, alle Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln und damit der verfassungsmässig verankerten Religionsfreiheit Rechnung zu tragen.

In der Bevölkerung bestehen Ängste, dass die Scharia, das islamische Recht, mit unserem demokratischen System nicht vereinbar sei.
So betrachtet, könnte auch die römisch-katholische Kirche nicht öffentlich-rechtlich anerkannt werden. Innerhalb der katholischen Kirche gibt es bekanntlich auch keine demokratischen Verhältnisse. Die Katholiken in der Schweiz haben als Ergänzung zu ihrer kanonisch-rechtlichen Struktur (bestehend aus Pfarreien und Bistümern) öffentlich-rechtliche Körperschaften gebildet (Kirchgemeinden und Landeskirchen), in denen nach demokratischen Spielregeln über die Verwendung der finanziellen Mittel entschieden wird. Wenn sie die öffentlich-rechtliche Anerkennung und das Besteuerungsrecht erhalten wollen, müssen auch die Muslime entsprechende Körperschaften bilden, die demokratisch und rechtsstaatlich verfasst sind.

Das heisst, dass die öffentlich-rechtliche Anerkennung auch dazu beitragen kann, die Demokratisierung innerhalb der Religionsgemeinschaften zu fördern?
Tatsächlich wird in dieser Hinsicht die Demokratie am Rande in die einzelnen Religionsgemeinschaften hineingetragen, indem die Beschaffung und Verwendung der Steuergelder nach demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln erfolgt.

Welche Herausforderungen sehen Sie in Zukunft für das Verhältnis von Staat und Religion?
Staat und Religion verbindet mehr als angenommen, auch wenn sie im Gegensatz zu ihrem historisch engen Verhältnis institutionell streng zu trennen sind und heute auch getrennt sind.
Indessen gibt es immer noch einzelne Kantone, beispielsweise Bern, wo das bestehende Verhältnis von Kirche und Staat in Zukunft noch klarer entflechtet werden muss.



Giusep Nay
Giusep Nay (69) war Anwalt und nebenamtlicher Bezirks- und Kantonsrichter in Graubünden. Von 1989 bis 2006 war er Bundesrichter in Lau­sanne und 2005/06 Bundes­gerichts­präsident.

Interview Benno Bühlmann / Kipa

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