Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

«Wir haben die Macht des Nationalismus verkannt»

min
01.01.2016
Vor hundert Jahren traf sich die Elite der Sozialisten Europas im Basler Münster. In Vorahnung des Ersten Weltkrieges sollte der Friedenskongress die Arbeiterschaft gegen den Krieg vereinen. Vergeblich. Für den Theologen Leonard Ragaz wurde der Kongress zum enttäuschenden Schlüsselerlebnis und zum Anstoss für den Pazifismus.

1912 war für den Schweizer Theologen Leonard Ragaz auch ein friedenspolitisches Schlüsseljahr. Der Antimilitarismus hatte sich in einem Streikkommentar über den Militäreinsatz beim Zürcher Volkshaus angekündigt: «Wenn Tausende von Arbeitern, die bisher keine Antimilitaristen waren, künftig keine Uniform mehr ansehen mögen, dann soll man sich nicht wundern. Auch ich habe mir darüber aufs Neue meine Gedanken gemacht.» Der Antimilitarismus war für Ragaz die Antwort auf den bürgerlichen Militarismus, der die Armee ideologisch überhöhte und für politische Zwecke missbraucht.
«Das Proletariat will all seine Energie in den Frieden setzen»
Noch im selben Jahr 1912 verbindet Ragaz seinen Antimilitarismus mit dem sozialistischen Internationalismus, der im Friedenskongress von Basel einen Höhepunkt findet. Das Wettrüsten der Grossmächte und die Krisen auf dem Balkan sind brandgefährlich. Die Lunte am Pulverfass wird als «Attentat von Sarajevo» in die Geschichte eingehen. Um die Kriegsgefahr zu bannen, verabschiedet die Sozialistische Internationale im November ein Manifest, in dem es heisst: «Das Proletariat ist sich bewusst, in diesem Augenblicke der Träger der ganzen Zukunft der Menschheit zu sein. Um die Vernichtung der Blüte aller Völker zu verhindern, die von allen Gräueln des Massenmordes, der Hungersnot und der Pestilenz bedroht ist, wird das Proletariat all seine Energie aufwenden.» Dass die Schlusskundgebung des Friedenskongresses im Basler Münster stattfindet, ist dem ehemaligen Münsterpfarrer Ragaz zu verdanken. Dieser ist dabei und kommentiert das Ereignis mit Goethes Ausspruch nach der Kanonade von Valmy: «Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.» Nicht Priester seien gekommen, um den Frieden zu predigen, sondern «Weltleute, Ungläubige, Politiker und Arbeiter aus der Werkstätte, um den Frieden zu schaffen, den weder Kirche noch Parlament, weder Papst noch Kaiser schaffen kann oder will; inmitten einer Welt, die bereit ist, sich in Nationalhass zu zerfleischen, sind sie ein Reich von solchen, die sich als eine brüderliche Gemeinschaft sehen, ein neues Reich. (...) Das ist wirklich etwas Neues unter der Sonne.»

Das Scheitern des Internationalismus
Zwei Jahre später tobt der Erste Weltkrieg. In den meisten Ländern hatte die Mehrzahl der sozialdemokratischen Abgeordneten dem Kriegsbeitritt zugestimmt, das Proletariat folgte widerstandslos den Marschbefehlen in die Hassorgie der Gewalt und des Massenmords. Nur wenige Sozialisten hatten im Deutschen Reichstag die Kriegskredite abgelehnt. «Die Glocken von Basel» sind im gleichnamigen Roman von Louis Aragon zum Symbol für das Scheitern der Arbeiterbewegung geworden.
Der sozialistische Internationalismus hatte, wie Ragaz im September 1914 «Über die Ursache des Krieges» schreibt, die Macht des Nationalismus verkannt. Dieser ist über die Völker gekommen wie ein ungeheurer Rausch. (...) Und nun haben wir die Tragödie erlebt, dass es gelungen ist, auch die Sozialdemokratie in diesen Rausch zu versetzen, so dass die Welt nun zusieht, wie auf furchtbaren Schlachtfeldern die Genossen einander das Bajonett ins Herz stossen.» Ragaz zieht daraus den Schluss, dass sich der Friedenswillen im damaligen Sozialismus nicht tief genug habe verankern können, dass die Ergänzung durch eine religiöse Friedensbewegung gefehlt habe.
Nach dem Ersten Weltkrieg hat Ragaz nicht mehr nur den bürgerlichen, sondern auch den «roten» Militarismus bekämpft. «Sozialismus und Gewalt» heisst die Streitschrift, in der Ragaz 1919 Lenins Bolschewismus entgegenhält, dass «Sozialismus und Anwendung von Gewalt einander grundsätzlich und aufs schärfste widersprechen. (...) Wenn der Kapitalismus sich mit der Gewalt verbindet, so entspricht dies seinem Wesen, aber wenn der Sozialismus es tut, so ist es Abfall von sich selbst; es ist Untreue, und Untreue ist Selbstauflösung. «Sozialistischer Mörtel, der mit Gewalt angerührt wird, hält schlecht.» 1919 verhindern Ragaz und die Religiös-Sozialen mit einer Urabstimmung den Beitritt der SP Schweiz zu der von Lenin dominierten Dritten Internationalen.

Die Glocken von Wipkingen
Aus dem religiös-sozialen Umfeld gab es auch zahlreiche Militärverweigerer. Sie wurden von Ragaz unterstützt, aber nicht ermutigt. Er verwahrte sich gegen die «Verleumdung», er habe Militärverweigerer zu ihrer Haltung «verführt», wie General Wille in seinem Bericht über den Aktivdienst 1914 bis 1918 drauflos polterte.
Aufsehen erregte ein Max Kleiber, der als erster Leutnant den Militärdienst verweigerte. Kleiber wurde 1917 nicht nur zu einer viermonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, sondern als Agronomiestudent auch noch von der ETH ausgeschlossen. Aus Protest beschloss die Kirchenpflege Wipkingen, die Kirchenglocken am 1. August nicht mehr läuten zu lassen.
Ragaz hielt im Kommentar «Die Glocken von Wipkingen» fest: «Wenn in der Kirche von Wipkingen der Antichrist in eigener Person aufgetreten wäre, so hätte dies viele unserer protestantischen Spiessbürger bei weitem nicht so aufgeregt, wie diese Auflehnung gegen das, was dem Spiessbürger sein höchstes Heiligtum und Glaubensbekenntnis ist. Gerade da­rum haben wir uns von Herzen über jene Tat gefreut. Da ist einmal eine protestantische Kirchenpflege, die auch zu protestieren wagt!»




Friedensmanifest
555 sozialistische Delegierte aus 23 Ländern reisten 1912 nach Basel, um die drohende Gefahr des 1. Weltkrieges abzuwenden. Sie verabschiedeten im Hotel Drei Könige ein Friedensmanifest, in dem sich die Arbeiterschaft verpflichtete, alles menschenmögliche zur Verhinderung des Krieges zu unternehmen. Zwei Jahre später erwies sich alles umsonst.
Der reformierte Theologe Leonard Ragaz war Mitbegründer der religiös-sozialen Bewegung in der Schweiz. Als Basler Münsterpfarrer versuchte er Kirche und Arbeiterschaft näher zusammen zu bringen. Später folgte er dem Ruf an die Theologische Fakultät Zürich.





Willy Spieler ist Publizist und war jahrelang Redaktor der religiös-sozialistischen Zeitschrift «Neue Wege» und SP-Politiker.

Willy Spieler


Leonhard Ragaz

Unsere Empfehlungen

Aufgeheiztes Klima

Aufgeheiztes Klima

Vor 500 Jahren kam es im Raum Stein am Rhein, Stammheim und der Kartause Ittingen zu einem Aufstand im Zusammenhang mit der beginnenden Reformation. Ein Stationenweg und Veranstaltungen laden ein, über aktuelle Fragen des Glaubens und Zusammenlebens nachzudenken.