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Schlange und Büsser

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01.01.2016
Künstler zeigen die Bibel: Gislebertus schuf eine der schönsten Frauengestalten der Romanik: Die Eva in der Kathedrale von Autun. Sein Sündenfall blickt tief in die menschliche Seele.

In der Nähe der Kathedrale von Autun steht das Musée Rolin, in dem Bruchstücke aus dem Nordportal der Kirche gezeigt werden. Unter ihnen die «liegende Eva», die in einen Türsturz gemeisselt wurde. Zwischen 1130 bis 1140 hatte der Bildhauer Gislebertus diese sonderbare Frauengestalt geschaffen. Sie gilt als Höhepunkt der romanischen Bildhauerkunst.
Sinnlich und verführerisch windet sich diese Eva über den Stein. Mit dem rechten Ellenbogen auf den Stein gestützt, flüstert sie Adam etwas zärtlich zu. Doch was, weiss nur sie. Denn der Türsturz mit dem ersten Menschen wurde zerstört. Oder hat sich Adam heimlich aus dem Staub gemacht? Mit der linken Hand greift Eva hinter sich ins Laub. Verspielt packt sie den Apfel, den ihr eine dämonische Krallenhand mit einem Zweig zusteckt. Die biblische Tragödie des Sündenfalls nimmt ihren Lauf.
Gislebertus Darstellung dürfte die mittelalterliche Geistlichkeit entzückt haben. Ist dies nicht die Eva, vor der sie seit Jahrhunderten warnen? Die sinnliche Verführerin, die das Böse über den Mann und die Welt gebracht hat? Das erotische Wesen, das mit seiner Sexualität von Generation zu Generation die Erbsünde weitergibt? Noch Jahrhunderte lang wird dieses Frauenbild zementiert und von der Kanzel verkündigt.
Doch Gislebertus ist kein asketischer Geistlicher, der Dogmen für die Ewigkeit in den Stein haut. Er ist Künstler, der in den biblischen Gestalten den Brüchen in der menschlichen Seele nachspürt und diese intui­tiv in den Stein meisselt.
Der Schlüssel dazu ist die rätselhafte Haltung der Eva, welche den mittelalterlichen Gläubigen sehr vertraut war. Im 12. Jahrhundert krochen tausende Büsser auf ihren Knien und Ellenbogen hinauf zu den Kathedralen und flehten um Vergebung. Sie taten Busse und sündigten im gleichen Moment. In Eva vereint sich die Bewegung der Schlange, als Symbol der Versuchung, mit der Haltung des Büssers.
Gislebertus stellt nicht die Lehre der Erbsünde dar, die nur durch die Sakramente bekämpft werden kann. Sein Verständnis des Bösen geht zurück auf die biblische Erzählung vom Menschen, der vom Baum der Erkenntnis gegessen hat. Der Mensch hat die Freiheit, zwischen Gut und Böse zu wählen. Das Alte Testament weiss, dass der Mensch, der lebt, isst, liebt und gutes tut, auch die Neigung
hat, Gott zerstörerisch zuwider zu handeln. Sigmund Freud beschreibt dies später als Lebens- und Todestrieb.
Gislebertus hat bei den Büssern erlebt, wie wenig Moral, Vorschriften und Dogmen von dem Bösen abhalten. 800 Jahre später stellt dies auch die Philosophin Hannah ­Arendt in ihren Ausführungen über den Nationalsozialismus fest. Die Allermeisten, die sich weigerten, mitzumachen, beriefen sich nicht auf religiöse Gebote oder Moral, sondern meinten lakonisch: «Das kann ich nicht tun.» «Das darf ich nicht tun» hielt der Versuchung und dem Druck des Terrorregimes nicht stand. Vom Büsser ist es nur ein kleiner Schritt zum Sünder.

Tilmann Zuber

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