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Das verflixte vierzehnte Jahr

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01.01.2016
Scheiden tut weh. Heute wird bald die Hälfte der Ehen ­geschieden. Darunter ­finden sich auch viele langjährige Partnerschaften. Doch statt als ein Befreiungsschlag erweist sich die Scheidung für die Betroffenen oftmals als der Beginn einer schwierigen Lebensphase.

Heute werden immer häufiger ­langjährige Ehen geschieden.
In dieser Situation lasse die Kirche die Geschiedenen ­liturgisch im Stich, erklärt der Küsnachter Pfarrer Andrea Bianca und ­plädiert für Scheidungsgottesdienste.

«Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage», heisst es im Märchen. Immer weniger Ehen ist ein solches Happy End beschieden. Selbst die Dauer der Partnerschaft bietet keine Garantie. Im Gegenteil: Die Statistik zeigt, die Anzahl der zerbrochenen Langzeitehen steigt stark an. Zuerst die Silberhochzeit und dann die Scheidung, lautet das Schicksal von vielen.
Paare, die sich nach 30 Jahren scheiden, machten 1970 drei Prozent aller Scheidungen aus. Im Jahr 2011 waren es bereits acht Prozent. Die durchschnittliche Ehedauer bei der Scheidung beträgt in der Schweiz 14,6 Jahre.
Die Gründe dafür sind rasch ausgemacht: Im Gegensatz zu früher werden Geschiedene heute nicht mehr stigmatisiert. Und die gestiegene Lebenserwartung lässt viele fragen, soll ich mit meinen Partner noch Jahrzehnte zusammenleben. Eine Rolle spielt sicher die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen. «Heute sind es die Frauen, die sich trennen und nicht mehr in der Ehe ausharren wollen», stellt Pasqualina Perrig-Chiello fest.
Die Berner Psychologieprofessorin leitet eine umfassende Studie zur «Partnerschaft in der zweiten Lebenshälfte». Die ersten Ergebnisse zeigen, dass sich der Befreiungsschlag Scheidung oftmals als Bumerang erweist. Vielen geht es als Single nicht besser. 50 Prozent der Befragten wursteln sich so durch, erklärt Perrig in der Sendung «Der Club». 20 Prozent litten psychisch und körperlich massiv und trauerten der Beziehung nach. Gerade Frauen bezeichneten ihren Verflossenen nach wie vor als ihren Traummann.

Kann denn Scheidung Sünde sein?
«Genau für diese Krise kennt die reformierte Kirche keinen Gottesdienst», bemängelt der Zürcher Kirchenrat Andrea Bianca, der sich seit Jahren im Rahmen einer Dissertation mit «Scheidungsritual» auseinandersetzt. Am Anfang der Ehe steht das Ja-Wort in der Kirche. Zerbricht die Beziehung, stehen sie alleine da. Die Kirche lasse die Paare liturgisch im Stich, meint Bianca. Er fordert deshalb einen Gottesdienst, der den Schmerz, die Wut und die Unsicherheit aufnimmt und verwandelt.
Scheiden in der Kirche? Was nach Skandal klingt, ist in vielen Kirchen anerkannt, aber weitgehend unbekannt. In der Schweiz haben ein Drittel der Kantonalkirchen diese Feier als «Gottesdienste in besonderen Lebenslagen» in ihrer Kirchenordnung ermöglicht. Bianca hat Scheidungsgottesdienste in den USA kennengelernt, als ihm ein Paar davon berichtete, wie sehr ihnen dieses Ritual geholfen habe.
Mit dem Scheidungsgottesdienst nehme die Kirche die Institution Ehe erst richtig ernst, betont Andrea Bianca. «Sie tut nicht so, als sei das Trauversprechen bedeutungslos. Die alte Ehe bleibt ja ein Teil des gegenwärtigen Lebens, gerade wenn man über viele Jahre zusammengelebt und Kinder hat.»
Für den Küsnachter Pfarrer ist das Trauversprechen nach wie vor etwas Kostbares. Zwar versprechen sich die Paare heute nicht mehr «bis der Tod euch scheidet», sondern umschreiben dies mit «auf immer und ewig» oder «für ­alle Zeiten». Auch Jesu Aussage «was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden» hat für den Pfarrer durchaus Gültigkeit. Doch schon der Evangelist Matthäus und der Apostel Paulus räumen Ausnahmefälle ein, etwa bei sexuellen Verfehlungen oder wenn der gemeinsame Glauben fehlt. Für Bianca deuten diese Bibelstellen auf einen «moralischen Tod der Ehe», wenn kein Glaube an die Zukunft der Partnerschaft mehr vorhanden ist.
Die Liturgie eines Scheidungsgottesdienstes ähnelt der einer Trauung. Nur dass im Zentrum die «Entbindung» der Partner und die Weiterführung der Elternschaft stehe, erklärt Andrea Bianca. Den Scheidenden sollte bewusst sein, welchen Anteil sie an der Trennung haben. Das Ritual nimmt den Dank für das auf, was gut war in der gescheiterten Beziehung und lässt Raum für die Entschuldigung. Der Gottesdienst hilft Altes loszulassen, sich die Trauer einzugestehen und auch das Wertvolle im bisherigen Leben zu sehen. Zum Abschluss bittet man Gott um den Segen für die getrennten Wege. Bianca ist überzeugt, dass ein solches Ritual zur Heilung der Geschiedenen beitragen wird.

«Du darfst deinen Papi gleich gern haben»
Der Pfarrer, der seit vier Jahren selbst geschieden ist, räumt ein, dass in der Praxis oftmals einer der beiden Partner einen Scheidungsgottesdienst will. Man könne das Ritual trotzdem durchführen, sagt Bianca. Er selbst stieg mit einer Geschiedenen und ihrer Tochter auf einen Berg hinauf, wo sie ein Feuer anzündeten. Die Mutter gelobte ihrer Tochter feierlich, sie dürfe ihren «Papi» genau gleich gerne haben, auch wenn sie nicht mehr zusammen sind.
Andere Geschiedene versprachen beispielsweise, sich keine Steine für eine neue Partnerschaft in den Weg zu legen und vergruben ihre Ringe hinter der Kirche.
Ob eine Ehe gelingt, ist für Andrea Bianca ein Stück weit auch Gnade oder Glück. «Humor und gemeinsame Ziele helfen sicher weiter», meint Bianca. Man sollte keinen einzigen Tag in der Ehe als selbstverständlich ansehen.
Kirchlich zu heiraten stärkt auch die Ehe. Bei kirchlicher Trauung ist das Scheidungsrisiko viel geringer, stellt ETH-Professor Andreas Diekmann in einer Studie fest. Paare, die sich kirchlich trauen lassen, haben eine positivere Einstellung zur Ehe. Aber jetzt einfach in der Kirche heiraten damit sei es nicht getan, warnt der Wissenschaftler. Es kann jedoch eine Ehe stärken, wenn man sich hinstellt und das Eheversprechen öffentlich bekundet.

Tilmann Zuber

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Pfarrer Andrea Bianca.

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