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«Essen ist eine lustbetonte, fast spirituelle Angelegenheit»

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01.01.2016
André Jaeger, Inhaber der «Fischerzunft» in Schaffhausen, wurde zweimal zum Koch des Jahres gewählt. Für ihn hat Kochen mit Respekt vor der Natur zu tun.

Herr Jaeger, Sie sind einer der erfolgreichsten Köche in der Schweiz. Wann ist ein Essen gelungen?
Essen ist eine lustbetonte, fast spirituelle Angelegenheit. Es geht nicht primär um Luxus, teure Produkte oder die aufwendige Verarbeitung. Gelungen ist für mich ein Essen dann, wenn das Produkt gut ist und wenn es mit Liebe und Respekt zubereitet ist.

Woher kommt Ihre Leidenschaft fürs Kochen?
Meine Leidenschaft gilt den Lebensmitteln. Sie beruht auf dem Respekt vor der Natur und den Lebewesen. Ich liebe Fleisch und liebe Fisch. Doch ich will wissen, woher sie kommen und was ich esse. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, in der sich viele nicht bewusst sind, was Lebensmittel sind.

Vom Philosophen Ludwig Feuerbach stammt das Zitat «Der Mensch ist, was er isst.» Können Sie das unterstreichen?
Absolut! Das zeigt sich, wenn man die Volksgesundheit betrachtet. Viele leiden heute an Übergewicht, zu hohem Cholesterin, Kreislaufkrankheiten oder Gicht. Heute werden Lebensmittel chemisch haltbar gemacht, thermisiert, vakuumiert oder zu Convinient-Food verarbeitet. Wenn ich die Inhaltsangaben auf den Verpackungen studiere, so vergeht mir der Appetit. Ludwig Feuerbach hat da Recht. Lebensmittel zu schätzen und achten hat mit Liebe, Eigenliebe und Respekt zu tun.

Gutes Essen ist doch auch eine Frage des Preises?
Vieles läuft heute über den Preis und nicht über die Qualität. Das ist total falsch. In den Kochkursen erzähle ich oft das Beispiel von einem Mann, der ein tolles Auto besitzt. Für sein Auto ist nur das beste Öl gut genug. Beim Einkauf weist er jedoch seine Frau zurecht, die ein teureres Olivenöl kaufen möchte, ein günstiges tue es doch auch. Für uns kann das Wohnen, das Auto oder die Ferien nicht teuer genug sein. Geht es jedoch um den eigenen Motor, das eigene Wohlbefinden, wird bei den Nahrungsmitteln gespart. Sie dürfen nichts mehr kosten.

Findet da heute in der Bevölkerung kein Umdenken statt?
Das wäre wünschenswert. Ob sich jedoch etwas ändert, ist fraglich. Die wenigsten lernen heute zu Hause, wie sie sich richtig ernähren können. Wir müssten an den Wurzeln beginnen und in den Schulen bei den Kindern ansetzen.

Eine Kollegin von Ihnen, die Fernseh­köchin Sarah Wiener, hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «Die Rettung der Welt beginnt in der Küche».
Ein chinesisches Sprichwort sagt «Jede Weltreise beginnt mit dem ersten Schritt». Sarah Wiener tut dies. Vom Staat haben sie und andere Köche den Auftrag, in die Schule zu gehen und den Kindern zu zeigen, was geschieht, wenn sie sich nur noch von Hamburger, Glace oder Chips ernähren. Oder was passiert, wenn sie ein Rüebli oder eine frische Tomaten essen. Sie zeigen den Schülern, woher die Koteletts kommen und wie ein Fisch aufwächst. Das finde ich grandios.

Wäre dies kein Projekt für die Schweiz?
Doch. Die Schweiz ist dazu jedoch nicht bereit. Das ist tragisch und traurig. Im Rahmen von «Grand Table» hatten wir ein tolles Projekt ausgearbeitet und dem Bundesamt für Gesundheit in Bern vorgestellt. Wir wollten in den Schulen mit den Kindern kochen. Doch beim Bund bestand dafür kein echtes Interesse.

Gibt es für Sie Vorbilder, etwa die Grossmutter oder Mutter?
Ich bin in den Fünfzigerjahren in einem Landgasthof aufgewachsen und wir waren nicht auf Rosen gebettet. Meine Grossmutter war eine exzellente Köchin. Im Frühling wurden junge Säuli geliefert, die den Sommer hindurch mit Küchenabfällen gemästet wurden. Im Herbst gab es dann Metzgete. Hinter dem Haus lag der Gemüsegarten. Und aus den Bächen fischte man Forellen, Zander oder Hecht. Am Freitag wurde Brot gebacken. Das war ein Ritual. Am Donnerstagabend wurde der Teig in der grossen Mulde angesetzt. Am folgenden Morgen wurde in der Früh der Kachelofen angefeuert und die Brotlaibe in den Ofen geschoben. Der Duft der frischen Brote ist unvergesslich. Mit der Restwärme des Ofens wurden Wähen gebacken, mal mit Apfel, mal mit Zwetschgen. Dieses Essen entstand aus den Resten des Teiges und den Früchten vom Hof. Dieser Umgang mit Lebensmitteln hat mich tief geprägt.

Stichwort Reste: Heute werden Unmengen Lebensmittel vernichtet, weil sie der Norm nicht entsprechen. Tut Ihnen das weh?
Wir produzieren heute auf fragwürdige Weise sterile und tote Lebensmittel, die alle gleich aussehen. Die Leute werden dazu erzogen, dass sie nur gerade Gurken essen. Wenn eine Gurke krumm ist oder ein Apfel Schorf hat, werden sie entsorgt. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen an der Armutsgrenze leben, ist das eine Katastrophe.

Wie gehen Sie in Ihrem Betrieb mit diesem Problem um?
Auch unser Hotelbetrieb kann es sich nicht erlauben, einem Gast eine braune Banane oder eine Erdbeere mit Druckstellen aufs Zimmer zu stellen. Die Früchte müssen makellos und frisch sein. Doch muss man diese Ware deshalb wegwerfen? Angeschlagene Früchte kann man in einem köstlichen Birchermüesli verarbeiten oder in einer Mousse. Nicht mehr taufrisches Gemüse in einer Gemüsesuppe. Wir haben die Möglichkeit im Kleinen einzuwirken. Das kostet jedoch Energie. Beutelaufschneider haben es da bequemer.

Dafür leidet die Qualität.
Frische, liebevoll zubereitete Lebens­mittel haben einen ganz anderen Geschmack und eine andere Konsistenz, als ein zu Tod konserviertes Produkt. Sie entfalten ganz andere Aromen.

Durch die Zeit, die Sie in Hongkong gelebt haben, wurden Ihre Gerichte von der asiatischen Küche beeinflusst. Der Gastronomie gelingt es, verschiedene Kulturen zusammenzubringen.
Das ist der positive Aspekt der Globalisierung. Man hat heute eine riesige Auswahl an Produkten aus der ganzen Welt. Wichtig ist, dass die Küche erkennbar und transparent bleibt und man weiss, was man isst. Doch was manchmal angeboten wird, ist bedenklich. Das Aussterben von Lebewesen und die Monokulturen machen es heute schwer, gute Produkte zu finden. Der Kampf um gute Lebensmittel nimmt ständig zu. Ende der 70er-Jahre sah ich in der Bretagne zum ersten Mal einen Saint Pierre. Der Fisch galt damals als minderwertig, da er im Überfluss vorkam. Man schickte ihn nach Marseille für die Bouillabaisse. Heute ist er vom Aussterben bedroht und gilt als Edelfisch. In zwei Generationen hat man es fertiggebracht, diesen Fisch beinahe auszurotten.

Gegen diese Entwicklungen sollte man auch im Kochtopf ankämpfen ...
... und sich zunächst selber klarmachen, dass man nicht Anrecht hat auf alles und jederzeit. Die globalisierte Welt ist wie ein Moloch: Je stärker das Verlangen und Begehren zunimmt, umso mehr wird produziert und konsumiert. Es geht im Leben darum, den Respekt und die Dankbarkeit nicht zu verlieren. Sonst wird man unersättlich. Die Gier macht unzufrieden.

Was raten Sie Laien, sodass die nächste Einladung zum Erfolg wird?
Ein guter Rat lautet, weniger ist mehr. Je einfacher, desto besser. Deshalb braucht es kein Menü mit fünf oder sechs Gängen. Eine Vorspeise, ein Hauptgang und ein Dessert reichen durchaus. Kochen Sie das, was Sie mögen und das Sie gut vorbereiten können. So bleibt Zeit für die Gäste. Wählen Sie gute, saisonale Produkte. Was gibt es Schöneres als ein Dessert aus frischen Beeren aus dem Garten, vom Markt oder dem Hofladen. Wenn man ein Gericht dazu mit Freude zubereitet, wird das Essen zum Erfolg.

Zum Schluss: Frustriert es Sie, wenn Gäste Ihre kulinarischen Kunstwerke innerhalb kürzester Zeit verschlingen?
Wir werden oft als Künstler bezeichnet. Doch in erster Linie sind wir Handwerker. Darauf sind wir auch stolz. Künstler schaffen Bilder oder Skulpturen, die für die Nachwelt bestehen bleiben. Unsere Gerichte sind vergänglich und werden zur Erinnerung. Doch es ist schön, wenn wir die Freude unserer Gäste erleben und sie uns nach Jahren erzählen: «Bei Ihnen habe ich den besten Fisch oder Kartoffelstock meines Lebens gegessen.» Was will ich noch mehr?




André Jaeger wuchs als Sohn eines Wirteehepaars auf. Nach der Kochlehre und Hotelfachschule in Lausanne wurde er Food and Beverage Manager im Peninsula Hotel in Hongkong. Die Jahre in Asien hatten einen prägenden Einfluss auf André Jaeger. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz erwarb er 1981 den väterlichen Betrieb, das Hotel und Restaurant Fischerzunft in Schaffhausen. André Jaeger ist einer der Spitzenköche, der von Gault-Millau zwei Mal die Auszeichnung «Koch des Jahres» erhielt. Seit 1995 wird André Jaeger von Gault-Millau mit 19 Punkten bewertet.

Interview: Tilmann Zuber

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