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«Wir waren von unseren Modellen berauscht»

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01.01.2016
Seit dem Erfolg seines Buches «Die Ökonomie von Gut und Böse» ist der Wirtschaftswissenschaftler Tomá Sedláček ein gefragter Gesprächspartner, der selbst am WEF in Davos auftrat. Doch die Modelle des kreativen Tschechen sind uralt und stammen aus der Bibel und der Theologie.

Herr Sedláček, Ihr Buch «Die Ökonomie von Gut und Böse» ist ein riesiger Erfolg. Wie erklären Sie sich seine Popularität?
Ich habe keine Ahnung. Es war ursprünglich eine Dissertation. Daraus verfasste ich ein Buch und dachte, dass es vielleicht 2000 Leute lesen, die sich für Ökonomie, Theologie und Psychologie interessieren. Ein Teil des Erfolgs ist wohl, dass ich nicht versucht habe, einen Erfolg daraus zu machen. Und das Timing stimmte.

Sie sprechen nicht über Finanzen, sondern über Kulturgeschichte. Was können Ökonomen davon lernen?
Vieles. Sehen Sie, nur schon die biblische Geschichte von Joseph. Die Geschichte von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren ist eine erste makroökonomische Prognose in der Menschheitsgeschichte und der erste Konjunkturzyklus. Das Ganze ähnelt dem, was wir heute erleben. Von 2001 bis 2008 hatten wir ebenfalls sieben gute Jahre, speziell in den USA und Europa. Dennoch haben wir vollkommen anders gehandelt als der Pharao, der Josephs Rat befolgte: Verbrauche in den guten Jahren nicht alles, das wächst, sondern spare und lege einen Überschuss an. Wir hingegen haben diese grundlegenden Prinzipien vergessen, die selbst ein siebenjähriges Kind wie Joseph vor 3000 Jahren problemlos verstehen konnte. Wir waren von unseren ökonomischen Modellen berauscht. Wir waren überzeugt davon, dass wir das System verstehen, und erwarteten, dass es immer so weitergehen würde. Das war unser Problem.

Kann man denn diese biblische Geschichte mit der Krise von 2008 vergleichen?
Wir könnten vor allem etwas daraus lernen. Diese Zivilisation, die viel «primitiver» war als die unsere, überstand eine viel schlimmere Wirtschaftskrise ohne einen Franken Schulden. Die Ägypter mussten zu keiner Bank und zu keinen Fremden, um Kredite aufzunehmen. Tausende Jahre später können wir uns eine Krise ohne Verschuldung nicht mehr vorstellen.

Warum haben wir uns so weit entfernt von diesem Wissen, das schon die Bibel kennt?
Wir Ökonomen respektieren diese Texte nicht. Wir verstehen sie als Kuriosität: «Schaut mal, damals hatte man ja keine Ahnung.» Der übliche Ansatz der Ökonomen vor der Krise heute sind wir viel bescheidener geworden war eine Paraphrasierung von Sokrates Wort «Ich weiss, dass ich nichts weiss». Wir Ökonomen sagen: «Ich weiss, dass ihr nichts wisst. Ihr Historiker, Theologen und Psychologen wisst nichts, weil ihr nicht über exakte mathematische Modelle verfügt.» Die Art, wie wir Wirtschaft vermitteln, ist schlimmer als der Katholizismus im Mittelalter. Wir lehren ein dogmatisches Glaubenssystem.

Eine dieser Überzeugungen ist der Glaube an das Wachstum.
Fehlt dieses Wachstum, so schreiben die Medien, die Wirtschaft leide unter einer Depression. Etwa im Fall von Griechenland. Und die übrigen Europäer erklärten, die Griechen und die anderen Südländer seien faul. Sie müssten härter arbeiten, sich stärker an die ökonomischen Modelle halten und mehr Steuern bezahlen. Dann hätten sie keine finanziellen Schwierigkeiten. Wenn man die Finanzkrise in Europa betrachtet, so stösst man bald einmal auf Irland und Island, die nicht im Süden liegen. Was sollte man diesen raten? Dass ihre Banker nur noch halb so viel arbeiten und sich weniger auf die wirtschaftlichen Modelle verlassen sollten? Das irische Problem ist ein manisches Problem, das griechische ist ein depressives Problem. Viele Leute sagen, die Wirtschaft ist depressiv. Ich denke, das ist eine falsche Diagnose, und wenn die Diagnose falsch ist, dann ist vermutlich auch die Behandlung falsch. Die Wirtschaft ist manisch-depressiv. Bis 2007 waren die USA noch auf einem Wachstumskurs.
Die Produktivität war hoch, die Arbeitslosigkeit war tief. Nichts zeichnete sich ab. Dann kam der Kollaps. Die Wirtschaft ist voll gegen die Wand gerannt.

Ist das Manisch-Depressive ein Ausdruck unserer Zeit?
Ja, das Manisch-Depressive ist eine Reaktion auf die Welt von heute und braucht eine besondere Behandlung, denn wir verdrängen unsere Manie. Sehen Sie nur das Gebot des Sabbats, das uns anleitet, am siebten Tag zu ruhen. Wir Menschen haben die Tendenz, uns zu überarbeiten. Deshalb entstand dieses Gebot. Wenn man den Sabbat nicht einhielt, wurde man zu Tode gesteinigt. In der Bibel wird dieses Gebot unzählige Male genannt. Selbst Jesus wurde oft mit dem Sabbat konfrontiert, wenn er heilte. Doch heute gerät dieser Tag der Ruhe mehr und mehr unter Druck. Ich wünschte mir, die Kirche und die Gemeinden würden die Bibel besser lesen, anstatt auf die Homosexualität zu fokussieren. Der Sabbat wird in der Bibel viertausend Mal erwähnt. Die Homosexualität nur dreimal. Wir haben die Tendenz, uns auf das zu konzentrieren, wo keine Schwierigkeiten bestehen.

Aber die Wirtschaft braucht doch Wachstum?
Schauen Sie, wir haben vieles geschaffen, von dem wir uns Freiheit und Wohlstand versprochen haben und das uns heute beherrscht. Vor 15 Jahren kamen die ersten Handys auf mit dem Versprechen, das die Menschen freier und unabhängiger werden und über mehr Zeit verfügen. Und ist es geschehen?

Nein, es geschah das Gegenteil.
Richtig. Das Gleiche gilt für die Wirtschaft. Was uns zurückgeworfen hat, ist unsere Sehnsucht nach permanentem Wachstum. Es gibt kein einziges Land, das bankrott ging, weil es kein Wachstum gab. Es gibt auch keine einzige Firma, die Konkurs geht, weil sie nicht wächst. Staaten, Firmen und Menschen gehen bankrott, weil sie Schulden machen. Und Schulden haben wir gemacht, weil wir schneller wachsen wollten. Wenn ich eine Schuld von 10 000 Franken aufnehme, hat nur ein Narr das Gefühl, dass er 10 000 Franken mehr besitzt. Wenn ein Unternehmen oder eine Regierung genau dies tut, und 3 Prozent mehr aufnimmt und die Wirtschaft wächst, haben alle das Gefühl, sie seien 3 Prozent reicher. Für dieses künstliche Wachstum haben wir mit einer Verschuldung bezahlt, die noch die nächste Generation betreffen wird.

Interview: Karin Müller, Tilmann Zuber

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