Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

Interview mit Hans Joas

min
01.01.2016
Der Anteil der Konfessionslosen und Gläubigen anderer Religionen nimmt in der Gesellschaft zu. Der Religionssoziologe Hans Joas sieht diese Entwicklung nicht einfach negativ. Die Kirchen müssten bereit sein, sich der Heraus-forderung zu stellen. Gefragt sei jetzt Leidenschaft.

Herr Joas, wann waren Sie zum letzten Mal in der Kirche?
Ich gehöre zu den Menschen, die jeden Sonntag in die Kirche gehen.

Geradezu vorbildlich. Gehört der Kirchgang zum Glauben?
Es gibt sicher gläubige Leute, die selten in die Kirche gehen. Kirchgang und Glauben gehören nicht untrennbar zusammen. In der katholischen Tradition, aus der ich komme, gibt es die normative Erwartung, sonntags in die Kirche zugehen. Ich glaube, dass darin eine gewisse Weisheit liegt. Rituelle Abläufe erzeugen Stabilität und tun insofern dem Menschen gut. Man macht sicher nicht in jedem Gottesdienst intensive religiöse Erfahrungen. Geht man jedoch nicht hin, ist die Wahrscheinlichkeit, sie nicht zu machen, noch grösser.

Für Sie gehören solche intensiven Erfahrungen zum Menschsein. Ist jeder Mensch gläubig?
Religion gehört nicht selbstverständlich zum Menschsein. Ein gros-ser Teil der Weltbevölkerung ist heute nicht gläubig. Aber ich glaube, dass jeder Mensch die Erfahrung machen kann, über die Grenzen seines Selbst hinausgerissen zu werden. Das nenne ich Selbsttranszendenz. Auch Nichtgläubige kennen solche Erfahrungen. Auch sie verlieben sich oder sind tief erschüttert. Gläubige Menschen interpretieren ihre Erfahrungen der Selbsttranszendenz mit der Vorstellung einer ihnen begegnenden Kraft oder Person. Jeder nichtgläubige Mensch weiss, wovon die Rede ist, wenn man angesichts der Schönheit der Berge so reagiert, auch wenn er nicht Gott dafür danken würde.

Sowohl im Fussballstadion wie im Kloster kann man solche Erfahrungen machen. Spielt dabei der Inhalt keine Rolle?
Ganz so einfach ist es nicht. Die Deutung einer Erfahrung kann sehr unterschiedlich ausfallen. Manchen sakralen Erfahrungen gehen Deutungen notwendig voraus: Wer nicht denkt, dass Jesus im Abendmahl realpräsent ist, für den ist das Zu-sich-Nehmen einer Hostie viel trivialer und nicht so intensiv.

Sie vergleichen den Glauben mit der Liebe. Zu einer Liebesbeziehung gehört das Verliebtsein genauso wie die Ehekrise. Wie erklären Sie es sich, dass einige Mitglieder mit ihrer Kirche kurz vor der Scheidung stehen?
In vielen Ehen ist die Phase des Verliebtseins kurz und die Beziehung beruht dann auf Gewohnheit. Etliche Ehen hingegen bleiben frisch und leidenschaftlich. Das liegt vor allem an Ritualen, die diese Leidenschaft erhalten. Gemeinsame Erfahrungen stabilisieren eine Beziehung sowohl in der Ehe wie auch in der Kirche. Es braucht einen gelebten Glauben, der die Motivation zur Zugehörigkeit immer wieder erneuert. Diese Erneuerungskraft ist zwar keineswegs aus der Kirche verschwunden, vielen Gläubigen aber erscheint sie als zu schwach. Im 19. Jahrhundert funktionierten gesellschaftliche Institutionen generell eher über den Gehorsam der Mitglieder. Gehorsam allein reicht heute nicht mehr aus, um Menschen an eine Institution zu binden. Es sind nicht mehr die Nachbarn, die einander dazu anhalten, sonntags in den Gottesdienst zu gehen. Die Religionsgemeinschaften müssen ihre Leute heute aktiv bei der Stange halten.

Viele Christen fürchten sich vor dem religiösen Pluralismus. Sie sehen in den anderen Glaubensrichtungen eine Gefahr und Konkurrenz. Sie jedoch erkennen darin eine Chance. Warum?
Tatsächlich fürchten sich viele. Noch immer träumen viele Kirchen von einer staatlich geschützten Monopolstellung. Am Beispiel der amerikanischen Kirchen können wir aber sehen, dass religiöser Pluralismus die Kraft einer Religionsgemeinschaft steigern kann. In der Wirtschaft sagt man: Konkurrenz belebt das Geschäft. Monopolbildung bringt alles zum Einschlafen. Sie sichert den Kirchen zwar eine Vormachtstellung, jedoch eine mit wenig Motivationskraft. Unter den Bedingungen von Pluralismus und Konkurrenz haben sie zwar eine unsicherere, aber auch eine leidenschaftlichere Anhängerschaft.

In der Gesellschaft muss man sich oftmals für seinen Glauben entschuldigen. Umgekehrt gelten viele Atheisten in religiösen Kreisen als egoistisch. Sind diese Vorurteile begründet?
Ich widerspreche beiden Vorurteilen massiv. Gläubige für naiv oder rückständig zu erklären, ist die niedrigste Ebene der Auseinandersetzung. Religionskritiker verstehen unter Glauben oft Leichtgläubigkeit. Wenn man Glauben aber im Zusammenhang von Vertrauensbildung und Selbsttranszendenz versteht, gibt es keinen Zweifel daran, dass auch gläubige Menschen sehr gut wissenschaftlich denken und arbeiten können. Auch das zweite Vorurteil beruht auf einer falschen Annahme: Man darf Atheisten nicht alle in einen Topf werfen. Es gibt sehr verschiedene säkulare Weltanschauungen. Auch hier sind die empirischen Befunde eindeutig: Atheisten sind nicht egoistischer als religiöse Menschen und sie sind nicht per se amoralisch.

Die christliche Botschaft der Nächstenliebe und die Werte der wirtschaftlichen Realität driften immer mehr auseinander. Ist das Christentum überhaupt noch zeitgemäss?
Das Christentum wollte nie einfach zeitgemäss sein: Christen standen immer wieder in Opposition zur jeweiligen Gesellschaft, beispielsweise, als es im 19.Jahrhundert um die Abschaffung der Sklaverei ging. Selbst wenn es scheint, dass das Christentum heute weniger Gehör findet, ändert dies nichts an seinem Wahrheitsanspruch. Die christliche Option für die Armen und die Logik entfesselter Finanzmärkte widersprechen sich. Aber von einem pauschalen Auseinanderdriften der Werte würde ich dennoch nicht sprechen, da sich in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften auch viele Veränderungen abgespielt haben, die man als Verwirklichung des christlichen Weltbilds interpretieren kann, etwa die Verbreitung der Menschenrechte oder die Frauenemanzipation. Auch wenn das Christentum in Europa heute oft ermüdet wirkt, wird sein Appell weltweit sehr wohl gehört. Das Christentum erlebt derzeit weltweit einen enormen Aufschwung.

Was müssten die Kirchen in Europa tun, um die Menschen so anzusprechen wie es die Kirchen in Lateinamerika, Afrika und Asien tun?
Ernst Troeltsch, ein grosser protestantischer Theologe, sah im Christentum drei Sozialformen. Die Kirche, als grosse umfassende Einrichtung, die Sekte, die Intensität und Freiwilligkeit garantiert, und die Mystik, die individuelle Erfahrungen ermöglicht. Nur wenn es dem Christentum gelingt, diese Formen zu vereinen, hat es auf Dauer eine Chance. Es muss Erfahrungen der Selbsttranszendenz ermöglichen und seine Tradition neu zum Sprechen bringen.



Hans Joas ist Soziologe und Sozialphilosoph. Der Deutsche beschäftigt sich in seiner Forschung mit der Soziologie von Religion, Gewalt und Krieg und der Entstehung von Werten. Zurzeit doziert er an der Albert-Ludwig-Universität in Freiburg.

Buchtipp: Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. Herder Verlag 2. Aufl. 2013.

Delphine Conzelmann

Verwandte Artikel:
26.06.2014: Leserbriefe

Links:
Mitdiskutieren auf Facebook: www.facebook.com/refpunktch


Hans Joas

Unsere Empfehlungen

Aufgeheiztes Klima

Aufgeheiztes Klima

Vor 500 Jahren kam es im Raum Stein am Rhein, Stammheim und der Kartause Ittingen zu einem Aufstand im Zusammenhang mit der beginnenden Reformation. Ein Stationenweg und Veranstaltungen laden ein, über aktuelle Fragen des Glaubens und Zusammenlebens nachzudenken.