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In Flipflops über die Alpen

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01.01.2016
Als Seelsorger begleitet Marcel Cavallo Flüchtlinge in der Asylunterkunft. Als Künstler hat er ihre Füsse porträtiert. In der Ausstellung «Flüchtlinge und Wir» in der Photobastei Zürich sind seine Bilder und ein Video zusammen mit Werken namhafter Magnum-Fotografen ausgestellt.

«Die Füsse sind das Wichtigste auf der Flucht wenn sie kaputt sind, dann geht die Reise nicht mehr weiter.» Marcel Cavallo erklärt, warum er für die Ausstellung Füsse von Flüchtlingen fotografiert und gefilmt hat. Füsse in Flipflops, Füsse in ausgetretenen Turnschuhen, Füsse in kitschigen Ballerinas und Kinderfüsse beim Spielen.

Sie sind Symbol für die Geschichten der Menschen, die aus Syrien, Afghanistan und Eritrea in die Schweiz geflüchtet sind. Cavallo möchte Geschichten erzählen. Als Pfarrer, Seelsorger und Künstler. Das gelingt ihm mit seinen Bildern auf eine besondere Art. An der Bar in der Photobastei in Zürich legt er Handys mit privaten Bildern der Flüchtlinge auf. «Diese Menschen haben ein ähnliches Leben geführt wie wir hier. Bevor sie gezwungen wurden, ihr Land zu verlassen.»

Schnee in Damaskus
Cavallo möchte etwas anrühren beim Betrachter möchte ein lebendiges, kein distanziertes Bild vermitteln. Auf den Handys sind Fotos aus der Heimat zu sehen: die Gerichte, die die junge Mathematikerin Sasareon gekocht hat, Ausgang mit Freundinnen und Schnee in Damaskus. Schliesslich erst wieder Fotos, nachdem sie die Grenzen passiert hat: ein Bild der österreichischen Alpen, die sie teils zu Fuss überquert hat. «Auf der Flucht hat fast niemand Zeit, Bilder zu schiessen», erklärt Cavallo die Lücke.

Cavallo, der nun Arabisch lernt, arbeitet seit 2014 als reformierter Seelsorger der Zürcher Landeskirche in einer Asylunterkunft. Wo genau möchte er nicht erwähnt haben, um die Anonymität der Fotografierten zu schützen.

Die Kunst hat ihm einen neuen, direkteren Zugang zu den Menschen verschafft. «Wenn ich da bin, wollen sie wissen, ob ich die Kamera dabei habe, damit ich Fotos von ihnen mache.» Er schenkt ihnen die ausgedruckten Schwarz-weiss-Bilder am nächsten Tag.

Herausforderung und Bereicherung
So sind auch Freundschaften entstanden. Als Christ möchte er, dass diese Menschen als Brüder und Schwestern wahrgenommen werden. Doch die Nächstenliebe wie im Lukasevangelium beschrieben kann im Alltag eine Herausforderung sein. «Klar ärgere ich mich, wenn jemand drei Tage lang nicht geduscht hat», gibt Cavallo zu. Das sei aber die Ausnahme von der Regel.

Als Seelsorger erlebt er einen Teil der Spannungen, die das Zusammenleben auf engem Raum mit sich bringt. Das ist Herausforderung und Bereicherung zugleich. Welchen Wunsch hat Cavallo für die Schweiz im Umgang mit Flüchtlingen? «Dass die Schweiz das Angebot an Ressourcen, Intelligenz, Arbeitskraft und die humanitären Werte, die die Leute mitbringen, annimmt.»

Insbesondere müsse der Einstieg in die Arbeitswelt vereinfacht werden. Ein Chirurg aus Syrien habe ihm vorgerechnet, dass es zehn Jahre dauert, bis er in der Schweiz praktizieren könne. Solch erschwerte Bedingungen bringen für beide Seiten nichts. Cavallo schaut auf die Porträts, die vor ihm auf dem Tisch liegen.

Die Ausstellung «Flüchtlinge und Wir» hat der Gründer und Leiter der Photobastei Romano Zerbini kuratiert. Er ist überzeugt, dass Flucht und Migration ein Zustand der Menschheitsgeschichte sind, deswegen sei die Bezeichnung «Flüchtlingskrise» für die gegenwärtige Situation falsch.

Die zwei grossen Ausstellungen von weltberühmten Fotografen der Agentur Magnum aus Paris illustrieren dies. Sie thematisieren die Flüchtlingsfrage seit dem Zweiten Weltkrieg. So wird die heutige Situation in einen grössen Kontext gestellt. Der Betrachter soll merken: Es kann jeden treffen.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


«Flüchtlinge und Wir eine Spurensuche»
11. bis 27. Dezember, Eintritt 10/5 Franken
Öffnungszeiten:
Di bis So ab 12 Uhr, Di/Mi bis 21 Uhr, Do/Fr/Sa bis 24 Uhr, So bis 18 Uhr

Sihlquai 125, 8005 Zürich


Zum Bild: «Füsse sind das Wichtigste auf der Flucht»: Seelsorger Marcel Cavallo an seinem Videoschnittplatz.
Foto: ref.ch/Nathalie Dürmüller

Nathalie Dürmüller / ref.ch / 11. Dezember 2015

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