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Hansueli Hauenstein, Gefängnisseelsorger

«Das Leben ist alles andere als nur ein Geschenk»

von Carole Bolliger
min
29.04.2024
Er kennt das Leben hinter Gefängnismauern, obwohl er selbst nie in Haft war. 14 Jahre lang hat Hansueli Hauenstein als Gefängnisseelsorger unzählige Häftlinge in der JVA Grosshof in Kriens begleitet. Nun wird er pensioniert.

Ende Juni werden die grossen, schweren Türen der Justizvollzugsanstalt Grosshof in Kriens für Hansueli Hauenstein zum letzten Mal hinter ihm ins Schloss fallen. Nach 14 Jahren verabschiedet er sich. Mit gemischten Gefühlen. Unzählige Häftlinge hat der reformierte Pfarrer und Gefängnisseelsorger in all den Jahren begleitet, getröstet, mit ihnen geredet oder ihnen einfach nur zugehört. «Aktiv da zu sein, zuzuhören und nicht zu verurteilen, das ist meine wichtigste Aufgabe», sagt Hansueli Hauenstein.

Zum einen freut sich der 65-Jährige auf seine Pensionierung. Zum anderen werden ihm die Begegnungen und Gespräche mit den Insassen fehlen. Trotzdem sei es der richtige Zeitpunkt aufzuhören, ist der Seelsorger überzeugt. Aus den 14 Jahren nimmt er viel mit.

Für viele ist das Leben eine sehr grosse Last, ein ständiger und harter Kampf.

 «Ich habe unglaublich viel über Menschen gelernt und über verschiedene Arten, zu leben, zu kämpfen, sich über Wasser zu halten. Das Leben ist alles andere als nur ein Geschenk», sagt Hauenstein. Und er erläutert: «Für viele ist das Leben eine sehr grosse Last, ein ständiger und harter Kampf.» Dass Menschen im Gefängnis sind, habe immer einen Grund. «Man muss es nicht gutheissen oder rechtfertigen, aber es gehört zu meiner Aufgabe, wenigstens zu versuchen, sie zu verstehen und zu sehen, weshalb sie in diese Situation gekommen sind.»

Banale Schlüsselfrage

«Wie geht es Ihnen?» – Diese Frage hat Hansueli Hauenstein innerhalb der Gefängnismauern wohl am häufigsten gestellt. «Dermassen banal, aber eine Schlüsselfrage.» Ob und wo die Begegnung und das Gespräch stattfinden, entscheidet der Inhaftierte. «Ich bin dort nur zu Gast.»

Warum die Person in Haft ist, weiss der Seelsorger meistens nicht. Ganz sicher nicht vor dem ersten Gespräch. Er könnte sich darüber informieren, aber vor der ersten Begegnung interessiert es ihn nicht. Denn er möchte nicht davon beeinflusst werden und die Person einfach nur als Mensch sehen.

In der Regel fassen seine «Gastgeber» schnell Vertrauen zu ihm. Dies, weil die Seelsorge nicht Teil des Gefängnisbetriebes ist und die Häftlinge wissen, dass alles, was sie ihm erzählen, unter das Seelsorgegeheimnis fällt. Und sicherlich auch wegen seiner menschlichen, ruhigen und wohlwollenden Art.

Ehrlichkeit und Offenheit begegnen mir im Gefängnis viel häufiger als ausserhalb dieser Mauern.

Kann man noch an die Menschheit glauben, wenn man so viel mit Tätern zu tun hat? Hauenstein antwortet rasch: «Nein, das tue ich nicht, dafür sehe ich keine Anhaltspunkte, die dies rechtfertigen. Aber ich glaube an die Menschen, die im Gefängnis sitzen.» Denn die Insassen hätten nichts zu verlieren, was zu einer grossen Offenheit und häufig auch zur Ehrlichkeit führe. «Das finde ich etwas Schönes, es begegnet mir im Gefängnis viel häufiger als ausserhalb dieser Mauern.» Also müsste laut ihm jeder mal ins Gefängnis? «Das wäre wohl gar nicht so schlecht», sagt Hauenstein und lacht.

Erleben, was es heisst, Mensch zu sein

Dass der heute 65-Jährige damals als Seelsorger im Gefängnis angefangen hat, hat sich «einfach so ergeben». Er wurde von seinem Vorgänger angefragt, ob er diese Aufgabe übernehmen möchte. «Menschen, die in speziellen Situationen leben, haben mich schon immer interessiert.»

Hauenstein hat seine Entscheidung keinen Tag bereut. Für ihn war jede Begegnung hinter den Gefängnismauern intensiv und oft anstrengend, aber immer eine grosse Bereicherung. «Ich erlebte, was es heisst, Mensch zu sein, und wie viele Möglichkeiten es gibt, mit dem Leben umzugehen.» Aber auch, wie oft und schnell etwas schiefgehen könne, habe ihn überrascht und fasziniert.

Obwohl ihm seine Arbeit als Gefängnisseelsorger fehlen wird, freut sich Hansueli Hauenstein auf seinen allerletzten Besuch im Grosshof Ende Juni und vor allem auf seine Pensionierung. «Besonders aufs Nichtstun.» Am Morgen aufzustehen und nicht zu wissen, was der Tag bringt. Er wird nun Zeit haben, um wissenschaftlich zu arbeiten und zu schreiben. Und es dürfte nicht überraschen, wenn bald ein weiteres Buch von ihm erscheint. Vielleicht mit Geschichten aus seiner Tätigkeit als Gefängnisseelsorger?

 

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