Der Realist
«Heiliger Bimbam», titelt der «Blick». Von «Sexismus-Vorwurf» spricht «20Minuten». Und der «Tagesanzeiger» schreibt: «Ein politisch nicht ganz korrekter Oberhirte». Was ist geschehen? Vor kurzem setzte Josef Hochstrasser den «reformierten Bischof» Gottfried Locher «auf den Prüfstand», wie Hochstrasser im Untertitel seines Buches verrät.
Der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes spricht da Klartext. Seine Aussage, man müsse den Prostituierten dankbar sein, denn «sexuell unbefriedigte Männer sind unruhige Männer», entfachte ein Mediengewitter.
Später erregte Locher Ärger, als er in der «Weltwoche» von einer Feminisierung der Kirche sprach, sodass «die Männer nicht mehr in die Kirche kommen». Zweihundert Theologinnen und Theologen unterschrieben einen offenen Protestbrief.
Kein Kuschelchristentum
Gottfried Locher stammt aus einer Akademikerfamilie. Sein Grossvater war Theologieprofessor, sein Vater war Arzt. Der sonntägliche Kirchgang gehörte zum Familienleben. Nach dem Theologiestudium übernahm Gottfried Locher das Pfarramt der Schweizer Kirche in London.
Der 48-jährige Kirchenbundspräsident ist Realist. Rhetorisch brillant analysiert er, klar, ohne falsches Pathos. Ab und zu blitzt der Schalk auf, wenn er sagt, «Jesus war ein Besserwisser». Seine Aussagen sind frisch und entlarvend.
Locher präsentiert in Hochstrassers Buch kein Kuschelchristentum und keine Wellness-Spiritualität. Seine Kommentare sind ein Abgesang auf die Sozialromantik. Im Bezug auf die Migrationspolitik meint er, es sei eine Selbstüberschätzung, wenn man meine, das ganze Elend der Welt auf sich nehmen zu können. «Christstein heisst nicht nur helfen, Christsein heisst auch, Ohnmacht zuzugeben.»
Sozialkritische Befreiungstheologie ist nicht seine Sache. Etwa wenn er meint: «Arme brauchen Reiche zum materiellen Überleben. Reiche brauchen Arme zum spirituellen Überleben.» Das die Wohlhabenden ihren Reichtum vielleicht den Armen verdanken, spricht Locher nicht an. Bei der Spiritualität kennt Gottfried Locher keine Berührungsängste. Regelmässig tauschte er sich mit dem ehemaligen Abt Martin Werlen aus und pflegt das Stundengebet.
Klar und nüchtern
Gerade wegen seiner Nüchternheit und Klarheit entwirft Gottfried Locher keine grossen Visionen. In «Das Prinzip der Hoffnung» schreibt Ernst Bloch, die Gesellschaftsanalyse brauche einen Kälte- wie Wärmestrom. Wer nur analysiert, kommt nicht weiter. Es braucht visionäre Verheissungen und Zeichen der Solidarität die dem Menschen helfen, etwas von der Schönheit und Grösse des Gottesreiches zu erahnen.
Josef Hochstrasser: Gottfried Locher. Der «reformierte Bischof auf dem Prüfstand, Zytglogge-Verlag, 32 Franken.
Tilmann Zuber
Der Realist