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«Die Finanzkrise ist eine ethische Krise»

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01.01.2016
Der Dokumentarfilm «Master of the Universe» gibt einen Einblick in die Finanzwirtschaft. Die Welt ist beherrscht von pseudo-religiösen Ritualen, dem Glauben an das Geld und der fehlenden Ethik.

Die Kamera gleitet langsam über die gläsernen Türme des Frankfurter Bankenviertels. Rainer Voss blickt nachdenklich die Fassade hinauf. Über Jahre war dies seine Spielwiese, auf der der Investmentbanker per Mausklick Milliarden verschob. Im Film «Master of the Universe» gibt der ehemalige Investmentbanker Voss Einblick in die pseudo-religiöse Welt von Geld, Banken und raschem Gewinn, welche die Weltwirtschaft beinahe an den Rand des Abgrunds brachte. Der Film des Regisseurs Marc Bauder, der diese Woche in die Kinos kommt, wurde 2013 am Festival von Locarno ausgezeichnet.

Herr Voss, wenn man Ihre Ausführungen über die Finanzwelt hört, hat man das Gefühl, Sie lebten in einer Sekte. Zweifel und Kritik sind in den Banken nicht erlaubt. Man muss nachts durcharbeiten und die geforderte Loyalität ist absolut.
Rainer Voss: Der Ausdruck Sekte gefällt mir in diesem Zusammenhang. Eine Sekte oder Kaste ist in ihrer Struktur nicht unähnlich. Die Finanzwirtschaft funktioniert nach dem Prinzip «either you are in or you are out». Wir alle haben doch den Wunsch, lieber mitzuspielen, als am Spielfeldrand zu warten. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit wirkt sich dann auf Ihre Psyche und auf Ihre Person aus.

Sodass Sie nächtelang durcharbeiten und Ihre Ehe ruinieren.
Voss: Richtig. Das ist ein faustischer Pakt.
Marc Bauder: Die Unternehmen definieren ihre Werte, sodass die Angestellten wissen, was gut und was schlecht ist. Je klarer dieser Rahmen ist, desto sicherer fühlen sich die Leute und desto besser lassen sie sich führen.
Voss: Die eigene Verantwortung wird in einem solchen System delegiert an eine grosse, diffuse Mutter.

Im Film erklären Sie, dass der Markt als etwas Gottähnliches erscheint.
Voss: Als ich mit dem Kameramann in einen der Frankfurter Finanztürme trat und im leeren, riesigen Kassenraum stand, sagte ich: «Wir sind in einer Kathedrale des Geldes und Gott hat uns verlassen.» Wenn Sie es darauf anlegen, dann finden Sie viele Allegorien zwischen Finanzwelt und Religion.

Die Finanzwirtschaft funktioniert, weil die Leute daran glauben, dass sich das Geld vermehrt.
Voss: Ja. Der Glaube spielt eine wichtige Rolle. In der Volkswirtschaft gibt es das Axiom, dass Geld das ist, von dem die Leute glauben, dass es Geld ist.

Herr Voss, was sind Sie, Opfer oder Täter der Finanzkrise?
Voss: Keines von beiden. Matthias Beltz, ein leider verstorbener Kabarettist, sagte einmal: «Wenn du am Morgen aufstehst und weisst, wer der Böse ist, dann strukturiert dies deinen Tag.» Doch das Leben ist nicht so einfach. Es gibt nicht die Bösen, die «Bänkster» ich hasse diesen Ausdruck. Die Situation ist vollkommen verfahren. Sie entspricht der eines griechischen Dramas, in dem man unschuldig schuldig wird. Jeder will eigentlich nur das Beste, das bedeutet den grössten Gewinn. Wenn dies gelingt, bewegen wir uns auf die Katastrophe zu.
Bauder: Mein Film sollte keine Abrechnung mit der Finanzwelt sein, der die Gier der Banker anprangert. Ich wollte zeigen, wie Menschen in solchen Strukturen funktionieren. Das Gehalt etwa, das sie verdienen, sehen sie nicht im Verhältnis zur Gesellschaft, sondern im Vergleich zur Konkurrenz. Das gibt eine andere Perspektive.
Voss: Das Gehalt ist der Ausdruck der Liebe, welche einem die Institution entgegenbringt.

Die Wertschätzung des Unternehmens ausgedrückt in Franken oder Euro.
Voss: Ja. So ist es nicht die Gier nach Geld, sondern nach Liebe und Anerkennung, welche die Finanzwelt prägt. Und jeder von uns will so viel Liebe wie möglich. Auf der Basis funktioniert das System.

Hatten Sie nie das Gefühl, auf dem falschen Dampfer zu sein?
Voss: Doch öfters. Doch was machen Sie damit? Ich habe letztlich die Konsequenzen gezogen und bin ausgestiegen. Einerseits hat dies mit dem Alter zu tun, anderseits hatte ich das Gefühl, meine Würde zu verlieren. Ich war müde und dachte mir, da draussen tun so viele etwas Sinnvolles und Nützliches. Die virtuelle Welt und all ihre Rituale bedeuteten für mich zum Schluss eine Vergeudung der menschlichen Intelligenz.

Sie erzählen im Film, dass Sie in einem Monat mehr Geld verdienten als Ihr Vater in einem Jahr. Hat Sie das verändert?
Voss: Nein, ich lebe ganz normal. Ich habe ein Reihenhaus und drei Kinder, die ich durch die Ausbildung bringe. Ich sammle keine Ferraris und habe keinen Gerhard Richter an der Wand. Für viele ist Geld ein Fetisch, mit dem sie persönliche Unzulänglichkeiten abarbeiten. Früher träumte ich davon, einen Porsche zu kaufen. Als ich es konnte, hat es mich nicht mehr interessiert. Das ist das Verrückte am Geld. Jeder von uns hat seine Träume und Lebensmodelle, für die er arbeiten geht und mehr und mehr Geld verdienen will. Doch wenn er es sich leisten könnte, sind die Träume weg. Und er fragt sich, was wollte ich eigentlich?

Der Film endet pessimistisch. Herr Voss, Sie erklären, dass wir auf die nächste Krise zusteuern.
Bauder: Der Film ist keineswegs pessimistisch. Der Film fordert uns auf, die Verantwortung zu übernehmen, die Dinge zu hinterfragen und zu handeln. Es wird kein Heilsbringer kommen, der uns die Lösung präsentiert. Und es bringt nichts, wenn die Gesellschaft permanent auf die Bösen, etwa einen Herrn Ackermann, zeigt.
Voss: Ich will die Leute mit diesem Film wütend machen. Die Wut macht produktiv. Die Schweizer sind dafür das beste Beispiel. Ihr seid ein Wut-Level weiter. Ich beneide euch für die 1:12- oder Minder-Initiative. Da stehen Bürger auf und sagen, jetzt reicht es und nehmen das Heft in die eigenen Hände. So etwas brauchen wir auch in Deutschland. Die Politik will uns permanent weismachen, dies sei alles zu kompliziert. Verlasst euch auf uns, das machen wir schon.

Die Finanzwirtschaft wird sich nicht ändern?
Voss: Ja. Die Finanzkrise ist kein systemisches Problem, sondern beruht auf der menschlichen Psyche. Der englische Psychoanalytiker David Tuckett führt die Krise auf grundlegende Dinge wie Neid und Narzissmus zurück. Ich denke, sein Ansatz ist richtig.

Braucht es andere Banker in der Finanzwelt?
Voss: Nicht andere Banker, sondern andere Menschen. Unsere Gesellschaft verkommt vom Rechten tun zum Recht haben. Das müssen wir zurückdrehen, indem wir wieder Verantwortung für unser Handeln übernehmen.

Ist die Finanzkrise eine ethische Krise?
Voss: Ja. Die ganze Diskussion über den Wertekanon der Banken ist Quatsch. Den Wertekanon, den irgendwelche Kommissionen mit hoch dotierten Ethikprofessoren erstellen, kennt doch jeder. Den nehme ich mit einem Kassettenrekorder in der Kita auf: Nicht kratzen, nicht beissen und nicht spucken. Das ist doch lachhaft. Wenn ich einer achtzigjährigen Oma eine Anlage von dreissig Jahren verkaufe, dann ist dies falsch. Das weiss ich auch. Wenn ich einer philippinischen Putzfrau in Brooklyn, die 17'000 Dollar im Jahr verdient, eine Traumvilla von 700'000 Dollar verkaufe, dann ist das falsch. Auch das weiss ich. Die Frage ist doch, warum mache ich dies trotzdem?

Damit Sie von den Vorgesetzten geschätzt werden?
Voss: Genau. Sehen Sie: Der kriminelle Aspekt der Finanzkrise interessiert mich nicht. Kriminalität ist der Preis, den die Gesellschaft für ihre Freiheit zahlt. Dafür sind das Gesetz und die Strafverfolgung zuständig. Der interessante Teil ist diese Grauzone, die tektonische Verschiebung in Richtung Illegalität.

Das ist eine gesamtgesellschaftliche Erscheinung.
Voss: Die Finanzwelt zeigt nur deutlicher, was in der ganzen Gesellschaft geschieht.




Master of the Universe
Regisseur Marc Bauer wollte ursprünglich einen Film über die Finanzwelt drehen. Doch kaum ein Banker wollte vor der Kamera aussagen. Einzig der Investmentbanker Rainer Voss erklärte sich dazu bereit. « Master of the Universe» kommt in dieser Woche in die Deutsch­schweizer Kinos.

Tilmann Zuber

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28.12.2013: Leserbriefe

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Regisseur Marc Bauder.

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