Die Predigt – ein reformiertes Markenzeichen
Kennen Sie die Zwingli-Türe am Grossmünster in Zürich? Dieses Kunstwerk des Bildhauers Otto Münch (1885–1965) entstand in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. 24 Bronzetafeln erzählen von der Zürcher Reformation, angefangen mit dem 14-jährigen Zwingli, der die Laute spielt, bis zur Ankunft der wegen ihres Glaubens aus Locarno vertriebenen Protestanten an der Schifflände in Zürich am 12. Mai 1555.
Hunger nach dem Wort Gottes
Auf einer Tafel ist abgebildet, wie Zwingli im Grossmünster predigt: Es gab damals noch keine Kirchenbänke. Das Bild zeigt zutreffend, wie es den Gläubigen nicht zu viel war, die Predigt stehend anzuhören. Der Hunger nach dem Wort Gottes war gross. Die Leute wollten wissen, was in der Bibel steht. Doch es ging um mehr als um Belehrung! In den folgenden Zwingliworten weht der Geist der Reformation: «Das Wort Gottes ist gewiss, es kann nicht fehlerhaft sein. Es ist klar und lässt nicht in der Finsternis irren; es öffnet sich selber und bescheint die menschliche Seele mit allem Heil und mit aller Gnade. Es lässt die Seele auf Gott vertrauen […]. In Gott lebt sie, darum kämpft sie; sie verzweifelt an allem menschlichen Trost. In Gott ruht sie allein.»
Verbi divini minister
Berührend bei der Zwingli-Türe ist ein Detail: Ein Mann steht unmittelbar unter der Kanzel. Seine Kopfbedeckung hat er in der Hand. Hinter seinem linken Ohr hält er die andere Hand als Schalltrichter hin, um möglichst wenig von den Worten des Reformators zu versäumen. «Dein Mund hat mich gelabet, / dein Wort hat mich gespeist, / und reich hat mich begabet / mit Himmelslust dein Geist», hat Paul Gerhardt, der grösste evangelische Kirchenliederdichter, zweihundert Jahre später gedichtet.
Nicht nur in Zürich, sondern überall ist es ein Kennzeichen des Protestantismus, dass die Predigt hoch geschätzt wird. Junge Pfarrerinnen und Pfarrer erhalten nach der Ordination das Recht, hinter ihren Namen die Buchstaben VDM zu setzen: «Verbi divini minister» (Dienerin oder Diener des göttlichen Wortes).
Erneuerungen durch Predigt
Immer neu in der Christentumsgeschichte ging die Erneuerung der Kirche von der Predigt aus. Um nur ein Beispiel aus der Antike zu nennen, sei der griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomus erwähnt, der im 4. Jahrhundert lebte. Für das Zeitalter der Reformation soll nicht nur an Luther erinnert werden, der ein begeisterter Prediger war, sondern auch an Calvin, dessen Predigten so geschätzt waren, dass sie im 16. Jahrhundert auch ins Englische übersetzt wurden.
«Aber (Christus) soll und muss also predigt sein / dz mir un dir / der glaub drauss erwachs un erhalten werd... Dann wo ein hertz also Christum höret / das muss frölich werden von gantzem grund / trost empfahen / un süss werden gegen Christo / yhn widderumb lieb zuhaben.» (Luther in: «Von der Freiheit eines Christenmenschen»)
« Selber denken – Die Reformierten»
Bei den grossen Erweckungen im 18. und 19. Jh. waren es wortgewaltige Prediger (z. B. John Wesley, der Begründer des Methodismus), die die Menschen zu Tausenden ansprachen. Und auch die kirchliche Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg, die bei uns in der Schweiz vor allem mit den Namen Karl Barth und Emil Brunner verbunden ist, bewegte die Menschen durch die Predigt. Wenn Karl Barth in den 30er-Jahren in Bonn predigte, war die Kirche voll, und die sofort auch gedruckten Predigten gingen weg wie frische Brötchen. Ähnlich steht es mit den Fraumünsterpredigten des Zürcher Theologieprofessors Emil Brunner.
Schweizer Predigtpreis
In der Zwischenzeit scheint die Predigtbegeisterung etwas abgeflaut zu sein. Teilweise zu Recht, teilweise wohl aber auch zu Unrecht wirft man den Gottesdiensten «Kopflastigkeit» und Langeweile vor. Immerhin: Es gibt auch Gegenbeispiele! Im Jahr 2014 wurde zum ersten Mal ein «Schweizer Predigtpreis» verliehen, der ein grosses Echo fand.
Wie der Zürcher Fraumünsterpfarrer Niklaus Peter im Namen der Jury schreibt, wurden 181 Predigten auf Deutsch eingesandt. Dazu kamen 62 Predigten auf Französisch oder Italienisch. Niklaus Peter erzählt: «Als die Zahl der Einsendungen kontinuierlich auf schliesslich 181 anwuchs, wurde uns etwas mulmig zumute.» Die Lektüre der eingesandten Predigten sei aber «über weite Strecken eine schöne und erfreuliche Sache» gewesen. Schwierig war es offenbar bloss, «nur zehn preiswürdige auszuwählen». Der Sammelband zeigt, dass es heute in der Schweiz erfreulich viele Pfarrerinnen und Pfarrer gibt, die teilweise neue Wege beschreiten und lebendige Predigten halten. Überhaupt ist man heute vielerorts daran, nicht nur originell zu predigen, sondern die Gottesdienste auch musikalisch in den verschiedensten Stilen ansprechend zu gestalten. Auch Blumen und Kerzen sind wichtig. Das Amt der Lektorin oder des Lektors wurde wiederentdeckt. Hinzu kommt, dass man das Abendmahl häufiger und fröhlicher feiert – auch mit Kindern!
«Immer neu in der Christentumsgeschichte ging die Erneuerung der Kirche von der Predigt aus.»
Und doch wird auch in Zukunft die Predigt ein besonderes reformiertes Markenzeichen sein. Auch der Apostel Paulus hat die Predigt in den Mittelpunkt gestellt: «So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.» (Röm 10, 17)
«Selber denken – Die Reformierten» hiess vor einigen Jahren ein Losungswort in unserer reformierten Kirche in der Schweiz.
Es wäre schade, wenn wir uns nur noch mit Stimmungen und schönen Gefühlen begnügten, auch wenn diese natürlich ebenfalls wichtig sind. «Seid stets bereit, Rede und Antwort zu stehen, wenn jemand von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.»
(1 Petr 3, 15) – Eine gute Predigt hat unter anderem die Aufgabe, der Gemeinde dabei zu helfen.
Text: Frank Jehle, St.Gallen | Bilder: Otto Münch (1885–1965) – Kirchenbote SG, September 2015
Die Predigt – ein reformiertes Markenzeichen