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Von der Kirchenpolitik in die Gemeinde

«Die Rückkehr in den Pfarrberuf ist ein Nach-Hause-Kommen»

von Noemi Harnickell
min
26.01.2024
Der Zürcher Kirchenratspräsident kehrt zurück zu den Wurzeln des Pfarrberufs. Michel Müller ist seit Januar Pfarrer der Teilkirchgemeinde Rigi-Südseite.

Mit dem Schiff sind es rund fünfzig Minuten von Luzern nach Weggis, einmal quer über den Vierwaldstättersee der Rigi entgegen. Hier liegt die neue Arbeitsstelle von Pfarrer Michel Müller. Er nennt es eine «glückliche Fügung», dass es ihn ausgerechnet hierhin, in den Kanton Luzern, verschlagen hat.
Es ist der 9. Januar, Michel Müller ist seit genau neun Tagen im Amt. Er steht noch ganz am Anfang seines Neuanfangs. «Dieses Nach-vorne-Schauen motiviert mich enorm», sagt er. Im August 2023 hat Michel Müller, 59, überraschend seinen Rücktritt als Kirchenratspräsident der reformierten Kirche des Kantons Zürich bekanntgegeben. Zwölf Jahre lang war Müller als oberster Reformierter des Kantons tätig.

Heute dem Pfarrmangel von morgen begegnen

Die Fenster von Müllers neuem Büro sind zum See hinaus gerichtet, der Turm der katholischen Kirche Weggis erhebt sich davor. Ein gläsernes Porträt des Zürcher Reformators Zwingli lehnt auf dem Fenstersims gegen die Scheibe, das Tageslicht lässt ihn von aussen her leuchten. Ein Spinett steht daneben. Es sind die Artefakte eines stationenreichen Lebens. Zugleich ist das Büro ein halbleerer Raum, der sich nun weiter füllen wird.Dieser Raum ist auch eine Metapher für Michel Müllers neue Herausforderung: Das Pfarramt in der Teil-Kirchgemeinde Rigi-Süd mit seinen drei Gemeinden Greppen, Vitznau und Weggis und den rund tausend reformierten Gemeindemitgliedern ist ein starker Kontrast zu den 400'000 Menschen, die Zürich fasst. Es ist zudem das erste Mal, dass Müller eine Einzelpfarrstelle innehat und nicht im Pfarrteam arbeitet.

Ein Gemeindepfarrer ist auch eine Serviceleistung

«Ich gehe die neue Stelle ganz im Sinne des Seelsorgers an, der ich bin», meint Müller. «Ich versuche zuzuhören zu erkennen, was die Leute hier von mir brauchen.» Ein grosses Anliegen sei ihm, die Menschen auf eine Zeit vorzubereiten, in der es weniger Pfarrpersonen gibt. Damit spricht Müller den schweizweiten Pfarrpersonenmangel an, der schon jetzt in vielen Gemeinden spürbar ist. Bis 2032 werden zwei Drittel der aktuellen Pfarrpersonen pensioniert, etwa 500 Stellen werden in der Folge unbesetzt sein.

«Die letzten zwölf Jahre habe ich mich darum bemüht, dem Pfarrermangel auf strategischer Ebene zu begegnen», sagt Müller. Im Kirchenrat war er unter anderem mitverantwortlich für die Lancierung eines Quereinsteigerkurses für Pfarrpersonen. Nun ist es für ihn an der Zeit, diese Arbeit in der Gemeinde fortzuführen. «Ein Gemeindepfarrer ist auch eine Serviceleistung», meint er. «Sollte nach meiner Pensionierung niemand mehr angestellt werden können, fallen verschiedene fachliche Kompetenzen weg.» Schon jetzt findet der Sonntagsgottesdienst nur noch in einer der drei Kirchen statt, in der Liturgie und Seelsorge wirken oft engagierte Gemeindemitgliedern mit.

Alter Job, neue Lebenswelten

Neu ist für Michel Müller die Arbeit als Gemeindepfarrer keineswegs. Der gebürtige Basler arbeitete 17 Jahre als Pfarrer in Thalwil bei Zürich und gab bereits während des Theologiestudiums Religionsunterricht. Die Theologie verbinde für ihn eine Vielzahl an Interessen, sagte er einmal. Die Auslegung der Bibel, aber auch das Begleiten von Menschen. Statt Pfarrer hätte er auch Therapeut werden können.

Trotz der 25 Jahre, die Michel Müller mit dem Unterrichten von Jugendlichen zugebracht hat, blickt er aus­gerechnet dieser Aufgabe nun mit grosser Spannung entgegen. «Die Lebenswelten der jungen Menschen haben sich in den vergangenen zwölf Jahren verändert», sagt er. «Es fühlt sich an, als würde ich wieder ganz von vorne beginnen.» Zugleich sei die Rückkehr in den Pfarrberuf auch ein Nach-Hause-Kommen für ihn. «Kurz nach Neujahr hat mich ein Witwer angerufen», erzählt er. «Ich habe früher eine Menge solcher Erstgespräche geführt, und es fühlte sich ganz natürlich an, wieder in diese Empathie zurückzukehren.»

Die Seelsorge ist jener Bereich, der Müller während der Zeit als Kirchenratspräsident am meisten gefehlt hat. «Natürlich kann man Belange mit seelsorgerischer Sorgfalt angehen», sagt er. «Aber schon allein wegen des Seelsorgegeheimnisses darf man Seelsorge und Politik nicht mischen. Man ist dann zu stark voreingenommen gegenüber bestimmten Belangen.»

Kleine Gemeinde, grosse Resonanz

Er habe schon 2011, als er in den Kirchenrat gewählt wurde, gewusst, dass er nicht bis zur Pensionierung in der Politik würde bleiben können. «Ich hätte auch Vertretungen machen können», räumt er ein. «Aber da ist der Resonanzraum weniger existent.» Es sei einfach an der Zeit gewesen zu gehen, erklärt Müller auf die Frage, was ihn zum Rücktritt bewegt habe. «Es gibt diese Wirkungskurve, die man in fast allen politischen Ämtern beobachten kann», erklärt er. «Etwa acht Jahre lang kann man etwas bewirken und bis ins zehnte Jahr ernten. Danach werden die Leute müde, einen die ganze Zeit reden zu hören – und man selber auch.»

Nun müsse er nur wieder lernen, mehr zu fragen und weniger zu erzählen. «Ich bin hier Seelsorger und nicht Performer», sagt er und lächelt verschmitzt. «In den letzten zwölf Jahren war das eher umgekehrt.»

Am Sonntag, 28. Januar, 10.15 Uhr, findet der ­Einsetzungsgottesdienst in der reformierten ­Kirche Weggis statt. Dann wird Pfarrer Michel Müller sein Gelübde ablegen.

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