«Die Sehnsucht nach Liebe kennen wir alle»
Die Nacktselfies von Geri Müller haben eine Diskussion um Moral ausgelöst. Sie zeigt, wie die Vorstellungen auseinandergehen. Die einen verurteilen das Verhalten des Politikers, die anderen finden das ganze «Theater» übertrieben. Der Fall zeigt, dass der gesellschaftliche Konsens darüber, was in einer Paarbeziehung richtig oder falsch ist, heute fehlt.
Die Gesellschaft sei offener, bestätigen Karin Hegar und Reinhard Felix-Lustenberger von der Beratungsstelle für Partnerschaft, Ehe und Familie der Reformierten Kirche Baselland. Die Sorge um das gesellschaftliche Ansehen schwinde, der Fokus richte sich mehr auf die Verwirklichung persönlicher Bedürfnisse.
Neue Beziehungsformen
Heute existiert eine Vielzahl von Beziehungsformen: Patchworkfamilien, Single-Haushalte, gleichgeschlechtliche Paare. Früher hingegen war die Ehe eine Überlebensgemeinschaft, die der Existenzsicherung diente. «Vielleicht lernte man sich lieben», sagt Reinhard Felix. «Eine Ehe nahm man früher eher als etwas Schicksalhaftes an», ergänzt Karin Hegar.
Besonders für die Frauen hat sich in den letzten Jahrzehnten vieles verändert. Heute haben die meisten eine Berufsausbildung und sind unabhängig. Wer heirate, entscheide sich bewusst dafür, erklärt Karin Hegar: «Männer und Frauen haben in der Regel bereits Erfahrungen gesammelt mit anderen Partnern und können vergleichen.»
Mit dem Heiraten lässt man sich immer mehr Zeit. Das durchschnittliche Heiratsalter von Frauen und Männern ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. 1970 betrug es 24 Jahre, 2002 waren es 28 Jahre und heute liegt es bei 32 Jahren.
Doch nicht nur veränderte Wertvorstellungen und Geschlechterrollen haben die Paarbeziehungen verändert. Ein wichtiger Faktor sei die hohe Lebenserwartung, meint Reinhard Felix: «Bis dass der Tod euch scheidet kann heute viele Jahre länger dauern als früher.» Eine so lange Zeit zusammenzubleiben, stelle die Eheleute vor grosse Herausforderungen. Beide entwickeln sich weiter, doch nicht unbedingt in die gleiche Richtung.
Karin Hegar sagt: «Der Wunsch, mit jemandem zusammen zu sein, der zu einem passt, ist tief verankert. Das Problem ist, dass es die perfekte Person nicht gibt.» «Die Sehnsucht nach der allumfassenden, bedingungslosen Liebe kennen wir alle, aber sie ist eine Illusion», stellt auch Reinhard Felix fest. «Mit den romantischen Vorstellungen von idealen Beziehungen überfordern sich viele.»
Die Gefahr, dass eine Ehe scheitert, lauert von zwei Seiten, so die Erfahrung der Psychologen. Wenn das Gemeinsame, Verbindende abhandenkommt, entfremden sich die Paare. Wenn sie hingegen zu «siamesischen Zwillingen» zusammenwachsen, droht die Gefahr von totaler Langeweile.
Unterschiede akzeptieren
Die Psychologen raten, die Unterschiede stehen zu lassen. In einer ehrlichen und zugleich wertschätzenden Auseinandersetzung mit dem Partner oder der Partnerin liege die Chance, gemeinsam wie auch individuell zu wachsen.
Viele Menschen gehen heute mehrere Beziehungen nacheinander ein. Sie halten nicht ein Leben lang, aber einige Jahre, und sie seien oft durchaus glücklich, erzählt Reinhard Felix.
Es ist jedoch erstaunlich, dass trotz allen gesellschaftlichen Veränderungen die klassische Paarbeziehung keineswegs ausgedient hat. «Es ist immer noch die Ausnahme, wenn ich es in der Beratung mit einer Patchworkfamilie zu tun habe», betont Reinhard Felix.
Beratungsstelle für Partnerschaft, Ehe und Familie
Im Jahr 1969 nahm die Eheberatungsstelle in Muttenz ihre Arbeit auf. Sie wurde zu Beginn von der Reformierten und Katholischen Landeskirche gemeinsam getragen. Seit 1972 wird die Stelle von der Reformierten Kirche betrieben. 1998 erhielt sie ihren heutigen Namen. Im Jahr 2013 leistete das Team, das sich 170 Stellenprozente teilt, 1185 Beratungsstunden.
70 Prozent der Beratungen betrafen Partnerschaftsprobleme in laufenden Beziehungen. Bei 21 Prozent ging es um das Thema Trennung.
Zum Bild: Das Team der Beratungsstelle für Partnerschaft, Ehe und Familie (v. l.): Karin Hegar, Sabine Hofer, Reinhard Felix-Lustenberger und Sandra Rünzi.|zvg
Karin Müller
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