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«Die Situation ist völlig blockiert»

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01.01.2016
Vor kurzem war die Kappelerin Jael Schärli als Menschen- rechts­beobachterin für drei Monate in Palästina und erlebte den Alltag unter israelischer Besatzung. In ihrem Blog und in Vorträgen berichtet sie von ihren Erlebnissen.

Jael SchĂ€rli fĂ€hrt mit der Hand ĂŒber die ausgebreitete Karte und erlĂ€utert den bunten Fleckenteppich, der die palĂ€stinensischen Gebiete darstellt: Die Westbank sei in die Zonen A, B und C aufgeteilt. 60 Prozent des Gebiets untersteht der israelischen Kontrolle.

Nacht von Montag auf den Dienstag, 1.22 Uhr. Ich werde vom Klingeln meines Handys aus dem Schlaf gerissen. Die Nachricht: MilitĂ€r im Dorf! Schnell streife ich mir Kleider ĂŒber und wecke einen Teamkollegen. Wir treten vor unser Haus, aber nichts ist zu sehen. Ein weiterer Anruf folgt, etliche MilitĂ€rjeeps sollen sich vor dem Haus des BĂŒrgermeisters von Jayyus befinden.

Was die Besatzung fĂŒr die palĂ€stinensische Bevölkerung bedeutet, hat die 24-JĂ€hrige wĂ€hrend dreier Monate am eigenen Leib erlebt. Die Kappelerin weilte als Beobachterin von Peace Watch Switzerland und HEKS in der Westbank. Sie begleitete die PalĂ€stinenser in ihrem Alltag und dokumentierte die Schikanen und Übergriffe. Sie erlebte, wie junge MĂ€nner, die in Israel arbeiten wollten, stundenlang an den Checkpoints festgehalten wurden oder wie nachts MilitĂ€rfahrzeuge durch die kleinen Dörfer ratterten. Die Leute berichteten ihr, wie ihnen Baubewilligungen verweigert wurden, und wie das MilitĂ€r die GebĂ€ude in der NĂ€he der Mauer, welche die Westbank zu Israel abschottet, abriss. Oder wie PalĂ€stinenser auf gewissen Autobahnen nicht fahren durften oder wegen der Mauer und den Checkpoints riesige Umwege zu ihrem Ackerland in Kauf nehmen mĂŒssen. Die Bewegungsfreiheit der PalĂ€stinenser ist stark eingeschrĂ€nkt worden.
Auf der anderen Seite breiten sich die Siedlungen der Israelis immer weiter aus. Allein in der Westbank leben inzwischen 0,5 Millionen Siedler.

Ein Auto rast durchs Dorf. Ein lokaler Freund erklĂ€rt, dass dies ein weiterer Sohn des BĂŒrgermeisters ist. Ich ahne Schlimmes. Anschliessend rast eine Ambulanz durchs Dorf. Endlich, nach eineinhalb Stunden, bekommen wir die Erlaubnis zu handeln. Wir machen uns auf zum Haus des BĂŒrgermeisters. Schon nach hundert Metern sehen wir die Ambulanz zurĂŒckfahren, die dann neben uns anhĂ€lt. Die Krankenhelfer erzĂ€hlen uns, dass das israelische MilitĂ€r ihnen keine Erlaubnis gegeben hat, nach dem Rechten zu sehen. Sie fragen uns, ob wir es vielleicht versuchen könnten. Also steigen wir in die Ambulanz und fahren mit Blaulicht zum BĂŒrgermeister. Dort angekommen erkennen wir sieben MilitĂ€rjeeps und etliche Soldaten.

Seit Jahrzehnten dreht sich im Nahen Osten die Spirale der Gewalt, die vor allem die Zivilbevölkerung betrifft. Der Ökumenische Rat der Kirchen lancierte 2002 ein Programm, in dem Menschenrechtsbeobachter zum Schutz der Bevölkerung in die besetzten Gebiete reisen. In der Schweiz wird dieses Projekt vom Kirchenbund und dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz unterstĂŒtzt. Jael SchĂ€rli ist eine der Freiwilligen, die an diesem Programm teilnahm. Im RĂŒckblick sind ihre Erfahrungen jedoch ernĂŒchternd. Ausser bei der israelischen Friedensbewegung fand sie kaum Gehör fĂŒr die palĂ€stinensischen Anliegen. Die angesprochenen Siedler versteiften sich auf die Behauptung, das Land sei heilig und gehöre ihnen. Und die Soldaten versteckten sich hinter ihrem Auftrag, die Sicherheit herzustellen. «Die Situation ist völlig blockiert», musste sie feststellen. Sie versteht die PalĂ€stinenser, die in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sehen.

Soldaten verschwinden im Haus und kommen wieder zurĂŒck, manche mit SpĂŒrhunden. Wir erfahren, dass in einem der Jeeps der verhaftete Sohn gefesselt und mit verbundenen Augen sitzen soll. Nach einer gefĂŒhlten Ewigkeit zieht das MilitĂ€r ab. Wir gehen zusammen mit den Krankenpflegern ins Haus des BĂŒrgermeisters. Was wir da sehen ist einfach unbeschreiblich: Kinder und Frauen weinen. Die Krankenpfleger machen sich an ihre Arbeit und wir uns an unsere. Wir befragen die Menschen und machen Fotos. Die Frau des BĂŒrgermeisters erzĂ€hlt, wie ihr Sohn gefesselt und ausgefragt wurde, wo er seine Waffen versteckt hĂ€tte. Das ganze Haus ist auf den Kopf gestellt, doch gefunden haben sie nichts.

Über ihre Erlebnisse berichtet Jael SchĂ€rli in ihrem Blog und an VortrĂ€gen. Ihr gehe es darum, aufzuklĂ€ren. FĂŒr Jael SchĂ€rli ist die Besetzung keine Frage des Volkes, sondern der Regierung. Die Menschen leiden. Sie bedauert auch die israelischen Soldaten, die mit 18 Jahren drei Jahre MilitĂ€rdienst leisten mĂŒssen und in diese Rolle gedrĂ€ngt werden. Geblieben sind Jael SchĂ€rli die Kontakte in die Westbank. Ab und zu ruft sie dort an. Es schmerzt sie, wenn sie erfĂ€hrt, wer jetzt wieder verhaftet worden ist.


Jael SchĂ€rli: Als Peace Watch unterwegs. Dienstag, 5. Juni, 19.30 Uhr, in der Pauluskirche Olten, Eintritt frei, Kollekte fĂŒr Projekt EAPPI, ökumenisches Begleitprogramm in PalĂ€stina und Israel, Mitveranstalter Offene Kirche Region Olten und reformierte Kirche Kanton Solothurn.

Text und Fotos aus dem Blog von Jael SchÀrli.

Tilmann Zuber

Links:
www.eappi-jael-schaerli.blogspot.com/


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