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Ein Atheist, der die Religion nicht scheut

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01.01.2016
Für Alain de Botton, Autor von «Religion for Atheists», ist die langweiligste Frage zum Thema Religion diejenige nach dem Wahrheitsgehalt. Doch nur, weil Religionen für ihn nicht gottgegeben sind, hält er sie noch lange nicht für obsolet.

Warum haben Sie sich dazu entschlossen, über Atheismus und Religion zu schreiben?
Alain de Botton: Ich wurde als Atheist erzogen und mir wurde beigebracht, dass Religion kompletter Unsinn ist. Mit der Zeit habe ich diese sarkastische Einstellung gegenüber der Religion verloren. Obwohl ich noch immer nicht glaube, wurde ich gegenüber bestimmten religiösen Gesinnungen und Verhaltensweisen neugieriger und verständnisvoller. Zwar sind mir all die Schmerzen und das Blutvergiessen, welches die Religionen verursacht haben, wohl bewusst, doch haben mich auch manche Stärken tief beeindruckt, vor allem der Umgang mit Ethik, Ästhetik und Ritualen.
Ich finde, es muss möglich sein, ein überzeugter Atheist zu sein und dennoch Religionen hin und wieder für nützlich, interessant oder tröstlich zu befinden und auch neugierig zu sein, wie manche ihrer Ideen und Handlungen in die säkulare Welt übernommen werden können.

Worin sehen Sie die Stärken der Religion?

Ich finde zum Beispiel, dass Religionen im Bereich der Bildung ausserordentlich effektiv sind, weil sie wissen, dass wir alles vergessen. Sie basieren auf Übung, Wiederholung, Gebet und Kalender. Sie planen für uns Termine, um den wichtigsten Ideen wieder zu begegnen. In der säkularen Welt besteht die Auffassung, dass wir jemanden in die Schule oder auf die Universität schicken können und dass dies dann vierzig Jahre lang hält. Wird es nicht. Unser Hirn ist ein Sieb und trotzdem assoziieren wir Repetition mit Unterdrückung. Der jüdische und auch der christliche Kalender sind Meisterwerke der Synchronisation: jeder Tag erinnert uns an eine wichtige Idee.  

Worin sehen Sie die Stärken des Atheismus?

Skeptizismus, Toleranz, Vernunft. Mich beeindruckt der sanft hinterfragende Atheismus, vor allem mag ich die Bescheidenheit.

Sie raten Atheisten, Aspekte aus verschiedenen Religionen zu wählen. Wäre es nicht einfacher, sich für eine etablierte Religion zu entscheiden?

Wenn einem der Glaube an eine Reli­gion fehlt, ist es normal, andere zu betrachten genauso wie wir es auch mit verschiedenen Musikern oder Malern tun. Mir gefallen die Gesinnungen vieler Religionen.  Religionen wissen zum Beispiel, dass wir Körper haben und verarbeiten ihre Erkenntnisse da­rum mit körperlichen Übungen. Im Zen-­Buddhismus hört man sich die Lektionen nicht nur an, bei einer Teezeremonie unterstützt das Teetrinken die philosophische Lehre. Im Judentum tut man nicht nur Busse, sondern taucht in ein Mikwe-Bad, um «sich zu läutern». Offensichtlich wissen die Religionen, dass man den Geist erreicht, indem man die überwältigende Macht von Körper und Emotionen über uns anerkennt.
Oder bei Gesellschaftsfragen: Wir sind ausserordentlich schlecht darin, auf irgendeine normale Weise aus Fremden Freunde zu machen. Religionen funktionieren wie Gastgeber: Ihre Häuser und Rituale ermöglichen, unsere verborgene Geselligkeit auszudrücken, die hinter unserem kalten Äusseren schlummert. Im besten Fall zeigen sie, dass in uns allen Menschlichkeit steckt.

Manche Ideen sind sowohl für Atheisten als auch für Gläubige provokant. Wie haben die Leser auf Ihr Buch reagiert?

Überall, wo das Buch erschienen ist, war es ein Bestseller, aber es wurde auch kritisiert. Ich denke, religiöse Leute fürchten, dass ich angriffig sein werde was ich nie bin. Atheisten befürchten, ich könnte religiös werden, was ich auch nicht bin. Letztlich müssen Atheisten etwas von dem Schönen, Berührenden und Tröstlichen vor all dem retten, das nicht länger wahr scheint. Die Weisheiten der Religionen gehören der ganzen Menschheit, selbst den Rationalsten unter uns, und sie verdienen es, gezielt von den ärgsten Feinden des Übernatürlichen zurückgeholt zu werden. Religionen sind manchmal zu praktisch, effektiv und intelligent, als dass man sie allein den Gläubigen überlassen könnte.

Waren Sie absichtlich provokativ?

Nie. Ich versuchte lediglich, das zu sagen, was ich für wahr oder interessant halte.




Alain de Botton, «Religion for Atheists». Hamish Hamilton, London 2012, 320 Seiten. Sprache: Englisch.

Interview Patricia Dickson

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