«Einsamkeit spürt man im Advent besonders»
Klaus Rütschi, was beobachten Sie in der Weihnachtszeit?
Viele Menschen setzen sich enorm unter Druck. Sie wollen alles perfekt machen – das Fest, das Essen, die Stimmung. Wenn dann etwas nicht so läuft, entstehen Spannungen. Und wer allein ist, spürt in diesen Tagen noch stärker, was fehlt. Die Diskrepanz zwischen dem, was man sich wünscht, und dem, was ist, wird schmerzhaft sichtbar.
Welche Themen beschäftigen die Anrufenden besonders?
Einsamkeit, Beziehungsprobleme, psychische Belastungen. Gerade in der Weihnachtszeit geht es oft um das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Manche Menschen melden sich auch einfach, um Danke zu sagen, das berührt uns jedes Jahr aufs Neue.
Wie kann man Einsamkeit entgegenwirken?
Indem man kleine Begegnungen zulässt. Ein Lächeln an der Kasse, ein Gespräch mit der Nachbarin – das kann schon helfen. Und wer eingeladen wird, sollte hingehen. Es gibt viele offene Feiern und Angebote, auch von den Kirchen. Es ist keine Schwäche, Hilfe anzunehmen.
Wie bereitet sich Ihr Team auf diese Zeit vor?
Wir sind selbst Teil dieser Gesellschaft, spüren die Erwartungen und Stimmungen. Darum achten wir auf unsere eigene Resilienz. Nach jeder Schicht gibt es einen Austausch, kleine Rituale helfen beim Abschliessen. Und wir fördern das Wohlbefinden mit Angeboten wie Yoga oder Tai-Chi. Wer anderen zuhört, braucht selbst einen festen Boden.
Klaus Rütschi, Geschäftsführer der Dargebotenen Hand Zentralschweiz.
Heute erreichen uns viele junge Menschen mit psychischen Problemen. Besonders stark wächst die Nachfrage im Chat. Leider können wir nur etwa einen Drittel der Anfragen annehmen, die Nachfrage ist enorm.
Hat sich die Arbeit in den letzten Jahren verändert?
Ja, deutlich. Früher waren es vor allem ältere Menschen, die anriefen. Heute erreichen uns viele junge Menschen mit psychischen Problemen. Besonders stark wächst die Nachfrage im Chat. Leider können wir nur etwa einen Drittel der Anfragen annehmen, die Nachfrage ist enorm.
Sie können über 60 Prozent der Chatanfragen nicht annehmen. Das ist viel. Was macht das mit Ihnen?
Es macht mich traurig und hilflos. Wir wissen, dass hinter jeder unbeantworteten Nachricht ein Mensch steht, der in diesem Moment jemanden gebraucht hätte. Das tut weh. Gleichzeitig zeigt es, wie wichtig unser Angebot ist, besonders für junge Menschen, die lieber schreiben als telefonieren. Wir versuchen, dem mit zusätzlicher Ausbildung und mehr Freiwilligen zu begegnen. Aber langfristig braucht es mehr Ressourcen und gesellschaftliche Sensibilisierung: Zuhören kostet Zeit, und diese Zeit muss uns als Gesellschaft etwas wert sein.
Die Reformierte Kirche Kanton Luzern unterstützt Sie bei der Chatseelsorge. Wie wichtig ist das?
Sehr wichtig. Durch die Zusammenarbeit konnten wir unsere Kapazitäten im Chat verdoppeln. Ich hätte nie gedacht, dass eine Kirche so agil, pragmatisch und offen mit uns zusammenarbeitet, das hat mich sehr positiv überrascht.
Was wünschen Sie sich für Weihnachten?
Dass wir uns wieder daran erinnern, was uns als Menschen ausmacht: Wir sind soziale Wesen. Wir brauchen Nähe, Berührung, Gespräche. Technik und soziale Medien haben uns viel genommen – jetzt müssen wir uns den Menschen wieder zuwenden. Und wenn jemand das Gefühl hat, allein zu sein: Es genügt, den Hörer in die Hand zu nehmen oder eine Nachricht zu schreiben. Unter 143 ist jemand da.
Gemeinsames Projekt für drei Jahre
Aufgrund der zunehmenden Nachfrage im Chatbereich haben die Dargebotene Hand Zentralschweiz und die Reformierte Kirche Kanton Luzern ein gemeinsames Projekt für 2024 bis 2026 ausgearbeitet. Die Synode als Parlament der Reformierten Kirche Kanton Luzern hat dafür 95‘000 Franken gesprochen. Dies ermöglicht unter anderem die Einstellung von neuen Mitarbeitenden für Betreuung und Qualitätssicherung. Zudem wurde eine Rekrutierungskampagne gestartet, um Freiwillige aus der reformierten Gemeinschaft für die Mitwirkung bei der Dargebotenen Hand zu motivieren.
Unter reflu.ch ist der Chat eingebunden. Zur Chatseelsorge hat die Reformierte Kirche Kanton Luzern einen Film produziert: www.reflu.ch/chat
«Einsamkeit spürt man im Advent besonders»