Fromme Industrielle
Die rasante Industrialisierung des 19. Jahrhunderts führte auch in der Schweiz zu gravierenden Veränderungen: Sie ermöglichte grossen Wohlstand auf der einen Seite, auf der anderen verelendeten ganze Bevölkerungsschichten. Eine Gruppe christlicher Unternehmer um den Basler Industriellen Karl Sarasin (18151886) versuchte damals die Lage der Arbeiter zu bessern und einen Beitrag zur sozialen Frage zu leisten. Wie das beschreibt die jetzt als Buch erschienene Doktorarbeit des Luzerner Pfarrers Marcel Köppli.
«Ich hatte zu Beginn der Forschungen vermutet, die von mir untersuchten Unternehmer würden ihr Handeln direkt mit der Bibel begründen interessanterweise war dies aber nicht so», erzählt Köppli. Weder ihre unternehmerischen Entscheide noch ihre innovativen Konzepte zur Lösung der sozialen Frage führten sie auf die Bibel zurück. Dennoch war ihr gesamtes Handeln zutiefst vom christlichen Glauben beeinflusst. Auch wenn die Unternehmer sehr unterschiedlich von liberal bis konservativ geprägt waren, verband sie das grosse Gefühl der Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Arbeiter in «geistigen wie leiblichen Dingen», wie Karl Sarasin es ausdrückte.
Wohnungen für Arbeiter
So bewirkten die frommen Patrons einerseits viel Positives: Sie bauten Wohnungen für die Arbeiter, riefen Wohlfahrtsverbände ins Leben und richteten Bibliotheken und Lesesäle ein. Auf der anderen Seite stand aber eine umfassende Kontrolle und Missionierung. Unternehmer wie der Basler Seidenbandfabrikant Karl Sarasin führten Arbeiterbücher, in denen über die familiäre und finanzielle Situation der Mitarbeiter genau Buch geführt wurde. Familienmitglieder statteten den Arbeiterfamilien zudem Kontrollbesuche ab, bei denen das sittliche Verhalten überprüft wurde. Ein System, das im Kleinen funktionierte. In grösseren Unternehmen, ohne persönliches Engagement des Eigentümers, stiess es hingegen schnell an Grenzen, beschreibt Köppli in seiner auch für Nichtwissenschaftler verständlich geschriebenen Arbeit.
Das Bild, das die frommen Unternehmer von ihren Mitarbeitern hatten, war dann auch wenig schmeichelhaft. «Sie betrachteten ihre Arbeiter als unmündige Kinder, deren soziale Probleme ihre Ursprünge in der fehlenden Moral, Trunksucht und Faulheit hatten», erklärt Köppli. Auch strebten die protestantischen Unternehmer keinesfalls eine Demokratisierung der Gesellschaft an. Diese setzt sich allerdings immer mehr durch, womit ihre Konzepte nicht mehr zukunftsfähig waren.
Religion spielte zudem im täglichen Leben eine immer untergeordnetere Rolle. Selbst ein überzeugter Christ wie Karl Sarasin musste sich 1879 eingestehen: «Unserm Bürgerthum ist mit wenigen Ausnahmen die ganze religiöse Basis, auf der seine Begriffe von Pflicht und Sittlichkeit beruhten, abhanden gekommen. Man kann auf einem Grunde, der so gründlich zerstört ist, wie die christliche Überzeugung in unserm Mittel- und Arbeiterstande, nicht mehr neu aufbauen. Die Leute verstehen einen Appell an ihr religiöses Bewusstsein nicht mehr.»
«Da sind durchaus Parallelen zu heute zu sehen», findet Köppli. Auch heute beklagten die Kirchen den fortschreitenden Bedeutungsverlust und doch präge Religion Lebensläufe. So begegnet der Theologe seinem Forschungsgebiet, in abgewandelter Form, auch im Pfarreralltag: «In Gesprächen, gerade mit älteren Gemeindemitgliedern, erlebe ich, welch gros-se Rolle der Glaube in den Biographien der Menschen spielte und spielt auch wenn in der Öffentlichkeit das Bewusstsein dafür nicht mehr vorhanden zu sein scheint.»
Marcel Köppli: Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Christlicher Patriarchalismus im Zeitalter der Industrialisierung. Theologischer Verlag, Zürich 2012, 251 S.
Zur Person
Marcel Köppli, 35, studierte Theologie in der Schweiz, Schottland und den USA. Seine Doktorarbeit, die jetzt in Buchform vorliegt, entstand an der Universität Bern. Köppli ist Pfarrer in Luzern.
Annette Meyer zu Bargholz
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