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Fokus: Ist der Mensch böse?

«Für Rache ist Gott sei Dank kein Platz»

von Aufgezeichnet von Carole Bolliger
min
08.04.2025
Fokus: Ist der Mensch böse? Antwort von Hansueli Hauenstein, ehemaliger Gefängnisseelsorger.

Meine 14 Jahre als Gefängnisseelsorger, in denen ich zum Teil mit schweren Jungs zu tun hatte, haben mir gezeigt, dass man davon ausgehen kann, dass der Mensch grundsätzlich böse ist. In uns allen sind Anlagen vorhanden, sich in bestimmten Situationen so zu verhalten, dass wir anderen oder uns selbst im Leben Schaden und Leid zufügen. Die am Anfang der Bibel formulierte Einsicht, das «Trachten des menschlichen Herzens» sei «böse von Jugend an», halte ich für realistisch. Unsere tief verwurzelten Bedürfnisse nach Macht, Geltung, Besitz, Befriedigung und Zuwendung sind ein ziemlich explosives Gemisch.

Allerdings: Damit es zündet, braucht es die entsprechenden Umstände. Meine Arbeit als Gefängnisseelsorger hat meine eigene Sicht auf das Böse nicht wirklich verändert. Sie hat eher bestätigt, dass «Bösesein» meistens extrem situativ ist.

Ich habe in den 14 Jahren kein Gegenüber erlebt, das während unserer Begegnung «böse» auf mich gewirkt hätte. Das ändert nichts daran, dass ich bestimmte Delikte als äusserst böse bezeichnen würde.

Sowohl innere wie auch äussere Umstände und Befindlichkeiten sind daran massgeblich beteiligt, wenn jemand «böse» ist. Oft verschärfen sich diese im Vorfeld eines Delikts enorm. Die Tat selbst ist dann häufig, wenn auch sicher nicht immer, die Spitze des Eisbergs. Es ist ein Glück, dass unsere Rechtsprechung das berücksichtigt. An der Schuldfrage ändert das im Übrigen wenig. Umstände erklären vieles, entschuldigen aber wenig.

Oft suchen die Inhaftierten Trost in der Religion und im Glauben. Zum Beispiel werden Bibel und Koran erstaunlich häufig verlangt und gelesen, und auch das Gebet spielt eine wichtige Rolle. Allerdings ist damit vorsichtig umzugehen. Denn auch im Gefängnis behält Religion ihre Ambivalenz zwischen tröstlicher Umkehr und selbst bestätigender Ideologie.

Ich staunte immer darüber, dass Gefängnisse eine Art Miniaturabbild unserer Gesellschaft sind.

Auffällig ist allerdings das markante Übergewicht männlicher Inhaftierter: fast 90 Prozent. Dafür habe ich nach wie vor keine befriedigende Erklärung.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich überzeugt davon, dass fehlende Bildung eine entscheidende Rolle spielt, wenn Menschen auf die schiefe Bahn geraten. Darunter verstehe ich in erster Linie Horizonterweiterung, Reflexions- und Empathiefähigkeit sowie die Kompetenz zur kritischen Selbstwahrnehmung. Drill und autoritäre Disziplinierungen sind hingegen kontraproduktiv.

Wichtig sind zudem soziale Gerechtigkeit und eine verlässliche Rechtsordnung. Wie wir als Gesellschaft mit «bösen» Menschen umgehen können? Unser Rechtsstaat gibt darauf eine klare Antwort: Ziel von Strafen und Massnahmen ist neben dem Schutz der Gesellschaft die Resozialisierung der Inhaftierten. Für Rachebedürfnisse ist da Gott sei Dank kein Platz.

 

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