Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

«Glücklich werden wir, wenn wir lachen und weinen dürfen»

min
01.01.2016
Für Pierre Stutz gehört die Trauer zur Qualität, die das Leben bestimmt. In ihr stecke eine heilende Kraft, meint der Autor und Theologe.

Herr Stutz, in Solothurn halten Sie einen Vortrag zur Trauer mit dem Titel «Die Engel der Trostes». Das klingt esoterisch. Was sind diese Engel?
Ich lasse mich gerne von der Bibel inspirieren: Engel sind Boten Gottes. Es bedeutet für mich, dass wir in all unseren Lebensvollzügen eine göttliche Spur erkennen können und dass wir unerwartet auch im Schweren im Innersten berührt sein können von einem Hoffnungsfunken.

Diese Engel sind für Sie andere Menschen? Doch gerade bei einem Todesfall  sind viele überfordert?
Ja, auch wir können einander Engel sein, in Trauerfällen eben Engel des Trostes. Dies wird möglich, wenn das Sterben und der Tod zu unserem Leben gehören darf. Und wenn wir miteinander einüben, dass wir einander auch sehr helfen können, wenn wir «nur» da sind, ohne grosse Worte, mit einer zärtlichen Geste. Eine intensive Lebensqualität wird uns geschenkt, wenn wir miteinander dunkle Stunden aushalten, ohne schnell eine Lösung anbieten zu können. 

Sie plädieren für eine Spiritualität des Trauerns? Wie sieht diese aus?
Ein indianisches Sprichwort sagt: «Hätten unsere Augen keine Tränen, hätte unsere Seele keinen Regenbogen!». Ich finde es sehr tragisch, dass eine Mehrheit der Menschen sich entschuldigt, wenn eine Träne über ihre Wangen fliesst. Tränen sind Ausdruck unserer Lebendigkeit, unseres Mitgefühls. Ein Bewusstseinswandel ist im Gange, sogar Männer erlauben sich Tränen, auch Tränen des Glücks! 

Doch heute wird genau das andere gefragt. Es gibt wenig Raum und Zeit für die Trauer. Was sollte man da tun?
Die Hospizgruppe Solothurn, die mich zu diesem Vortrag eingeladen hat, versucht aufzuzeigen, dass unser Leben reicher und sinnerfüllter wird, wenn wir wieder Sterbende begleiten. Wir werden immer mehr krank an einer Gesellschaft, die Grenzen überspielt und uns irrtümlich ganz subtil täglich in der Werbung beibringen will, dass wir nur glücklich sind, wenn alles rund läuft. Wer sich wie der Lebensbruder aus Nazareth, dem Leben liebend in die Arme wirft, der erfährt Glück in der Lebenslust und im Schmerz. Darum ist es wichtig, dass wir einander die Erlaubnis geben, lange trauern zu können, so dass danach ein Neu­anfang möglich wird: Auferstehung hier und jetzt.

Der Volksmund sagt, Zeit heilt alle Wunden. Stimmt dies, heilt die Zeit alle Wunden?
Im biblischen Buch Kohelet heisst es zurecht «Alles hat seine Zeit ...». Wir brauchen Trauerräume und Trauerrituale, damit wir die heilende Kraft der Trauer erfahren können. So können auch bei tiefen Erschütterungen im Leben Wunden heilen. Doch die Narben bleiben. Der schmerzliche Tod eines Kindes, eines Partners, einer Partnerin kann und darf auch nach vielen Jahren noch Tränen auslösen. Glücklich werden wir, wenn wir ein Leben lang lachen und weinen dürfen, hoffen und zweifeln.



Pierre Stutz, Theologe, spiritueller Begleiter, Autor vieler erfolgreicher Bücher zu einer Spiritualität im Alltag www.pierrestutz.ch rege Kurs- und Vortragstätigkeit im ganzen deutschsprachigen Raum, lebt in Lausanne.

Buchtipp: Engel des Trostes wünsche ich dir, Briefe an Trauernde,
 Pierre Stutz, Verlag ­Herder

Interview: Tilmann Zuber

Links:
www.pierrestutz.ch

Unsere Empfehlungen

Weihnachtszeit, Wichtelzeit

Weihnachtszeit, Wichtelzeit

Christkind und Samichlaus haben Konkurrenz bekommen: Wichtel Finn schlägt für die Migros die Werbetrommel. Doch warum erobert ein ursprünglich skandinavischer Troll die Herzen der Schweizer?
Gemeinsam beten – zu intim?

Gemeinsam beten – zu intim?

Beten ist für viele fast so intim wie das, was im Schlafzimmer passiert, schreibt Pfarrerin Anna Näf in ihrem Gastbeitrag. Warum das Gebet einen geschützten Rahmen braucht – und wieso selbst sie als Pfarrerin manchmal Gebetshemmungen hat.