«Ich sehe den Tod nicht als Tabu, sondern als Teil des Lebens»
Markus Naegeli ist im Thurgau aufgewachsen. In einem nicht kirchlich geprägten Umfeld. Die Entscheidung, Theologie zu studieren, entstand aus einer inneren Suche: «Es waren existenzielle Fragen, die mich als Jugendlichen beschäftigt haben.» Obwohl er sich damals nicht vorstellen konnte, Pfarrer zu werden, hat ihn das Vikariat gepackt. Er blieb. Zuerst als Gemeindepfarrer in einer Gemeinde im Zürcher Weinland. Später, als ihn die Seelsorge nicht mehr losliess, ging er dorthin, wo es am meisten Seelsorge braucht: ins Spital.
Zuhören und aushalten
Im Spital Uster fand Naegeli seine Berufung – und blieb fast drei Jahrzehnte. Im vergangenen April wechselte er nach Luzern ins Kantonsspital. Für ihn war Seelsorge nie einfach ein Beruf, sondern eine Leidenschaft und Berufung: «Ich wollte nahe bei den Menschen sein. Im Leiden, in der Krankheit, an Wendepunkten des Lebens.» Das Besondere an der Spitalseelsorge? «Fast alle im Spital sind auf irgendeine Weise leidend. Und wenn man leidet, kommen Sinnfragen.» Der Wunsch nach einem Gespräch, nach Zuwendung, nach spirituellem Halt sei heute grösser denn je. Naegeli spürt und erlebt, dass viele Menschen religiös oder spirituell empfinden – auch wenn sie keiner Kirche angehören. Gerade im Spital öffnet sich oft ein Raum für diese Fragen.
Der Spitalseelsorger begegnet täglich schwer kranken, oft sterbenden Menschen. Nicht alle möchten geheilt werden. Manche sagen: «Es ist genug. Ich mag nicht mehr.» In solchen Momenten geht es nicht um Antworten, sondern ums Aushalten. «Gerade die Frage nach dem ungerechten Leiden hat keine Antwort, die wirklich befriedigt», sagt er. «Aber ich kann mit den Menschen aushalten, was unaushaltbar scheint. Das ist Trost.»
Sterbebegleitung als Lebensschule
Ein Patient ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: ein schwer kranker Bauer, der sich wünschte, bei jedem Besuch einen Psalm zu hören. Diese Begegnungen haben ihn tief berührt.
Neben seiner Arbeit im Spital ist der 74-Jährige im Palliative-Care-Team des Zürcher Oberlands tätig. Zu Hause begleitet er Sterbende und ihre Angehörigen. «Ich sehe den Tod nicht als Tabu, sondern als Teil des Lebens.» Jeder Mensch sterbe anders. Und doch gibt es gemeinsame Themen: Lebensrückblicke, offene Fragen, manchmal auch Reue. Naegeli versuche herauszufinden, was die Person bewegt und was sie braucht. Für ihn bedeutet Seelsorge auch Präsenz, Aufmerksamkeit, ein echtes Interesse am Gegenüber. Und: Authentizität. «Am Spitalbett müssen Worte ‹verhebe›. Phrasen spürt man sofort. Ich kann nur sagen, was ich selbst glaube.»
Glaube trägt
Die Auseinandersetzung mit Krankheit und Sterben hat auch sein eigenes Glaubensverständnis verändert und vertieft. «Ich habe gelernt, wie wertvoll es ist, Menschen in ihrer Verletzlichkeit zu begegnen – und wie viel Vertrauen es braucht, sich jemanden im Leid zu öffnen.» Für Naegeli ist Seelsorge deshalb immer auch ein heiliger Raum – einer, in dem nichts muss, aber vieles darf.
Der Glaube ist ein tragender Bestandteil für ihn. «Er hat sich verändert. Ich bin dem leidenden Jesus nähergekommen durch meine jahrelange Arbeit in der Spitalseelsorge.» Aber auch Familie und Ausgleich sind wichtig. Naegeli ist verheiratet, Vater von drei erwachsenen Söhnen – und seit Kurzem Grossvater. Und dann ist da noch sein Hobby: Fussball. Genauer: Fussballschiedsrichter. «Das ist der totale Kontrast», sagt er und lacht. Und doch gebe es Parallelen: «Auch auf dem Platz geht es darum, präsent zu sein, mit Menschen umzugehen – nur ganz anders.»
Ein Geben und ein Nehmen
Trotz der Konfrontation mit Krankheit und Tod ist für Markus Naegeli klar: Seelsorge ist nicht nur ein Geben, sondern auch ein Nehmen. «Ich gehe fast jeden Tag beschenkt nach Hause. Ich habe so viele beeindruckende Menschen getroffen, die mir etwas mitgegeben haben.» Selbst im Sterben gibt es heitere Momente. Er erinnert sich an einen Mann, der sich auf dem Sterbebett mit seiner Frau eine Cremeschnitte teilte: «Nicht das letzte Abendmahl – aber die letzte Cremeschnitte», sagt er und lacht.
Braucht es Seelsorge heute noch? «Vielleicht sogar mehr denn je. Gerade junge Menschen sind oft auf der Suche, fragen nach dem Sinn, nach Orientierung. Seelsorge bietet einen Raum, in dem man mit diesen Fragen nicht allein ist.» Was ihn selbst trägt? Ein Satz des Mystikers Meister Eckhart: «Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch ist der, der dir gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk ist stets die Liebe.»
«Ich sehe den Tod nicht als Tabu, sondern als Teil des Lebens»