«In der Bibel kommt die ideale Mutter gar nicht vor»
Kirchenbote: In Ihren biblischen Mütterporträts überwiegt das Unkonventionelle. Da gibt es die vergewaltigte Batseba, die sitzengelassene Hagar oder Sara, die Mutter des entführten Isaak...
Margot Käßmann: Es hat mir viel Spass gemacht zu zeigen, wie verschieden Mutterschaft sein kann. Der Blick in die Bibel zeigt: Es gibt nicht «die» Mutter, die gut oder schlecht ist. Sondern es gibt unterschiedliche Situationen, in denen Frauen Kinder bekommen, und wir sollten die Frauen in ihrer momentanen Situation stützen.
Aus heutiger Sicht sind das alles schreckliche Familienverhältnisse.
Gibt es das Idyll der heilen Familie noch nicht einmal dort?
Vor ein paar Jahren gab es in Deutschland die Diskussion, ob Kinder unter drei Jahren in eine Betreuungseinrichtung gegeben werden dürfen. Schnell war von der Idealfamilie die Rede, in der der Vater das Geld verdient und die Mutter daheim die Kinder erzieht. Von «Gebärmaschinen» war die Rede. Dagegen wollte ich antreten, indem ich zeige, dass in den biblischen Geschichten gar nicht diese idealtypischen Mütter vorkommen.
Vom Ideal der hehren Muttergestalt müssen wir uns also verabschieden?
Ich möchte Muttersein nicht so erhöhen. Heute ist es manchmal für Frauen um die 40 schon schwierig, wenn sie angeschaut werden unter dem Motto «Was, du hast noch kein Kind geboren! Bist du denn so egozentrisch und karrierefixiert?» Deshalb habe ich zum Beispiel auch Esther aufgenommen.
Von der die Bibel nichts darüber berichtet, ob sie Kinder hat...
die sich aber sehr mütterlich für ihr Volk und ihr Land einsetzt. Mutterschaft ist nicht nur biologisches Muttersein. Viele Frauen sind mütterlich, auch wenn sie keine Kinder haben sie begleiten Kinder als Patentante, als Freundin, als Nachbarin. Der Soziologe Richard Dawkins hat gesagt, es gibt die einen, die die Gene weitergeben, und die anderen, welche die Meme weitergeben, also Geschichte, Tradition, Ideen, Kultur.
Was macht denn eine gute Mutter aus?
Mich stört schon der Begriff, weil es immer bedeutet, dass es auch eine «schlechte» Mutter gibt. Eine Mutter tut was sie kann für ihr Kind. Das kann auch eine Freigabe zur Adoption sein, wenn sie sagt, ich schaffe das nicht. Sie kann Berufstätigkeit und Mutterschaft verbinden. Oder sie bleibt ganz zu Hause. Entscheidend in meinen Augen ist, dass sie ihr Kind unabdingbar liebt und ihm ein Urvertrauen ins Leben mitgibt.
Sind Sie nach diesen Kriterien eine gute Mutter?
(lacht) Das kann ich selbst schlecht beurteilen, das müssten meine Töchter tun. Für mich war entscheidend, dass meine Kinder wissen, dass ich sie über alles liebe. Auch wenn nicht immer alles glatt läuft im Leben, sollen sie trotzdem wissen, sie sind gehalten und geliebt, von ihrer Mutter ebenso wie von Gott.
Hat die christliche Mutter anderen Müttern etwas voraus?
Jede Frau kann eine gute Mutter sein, egal ob sie Christin ist oder nicht. Für Christinnen, die Mütter sind, ist entscheidend, dass sie in der Taufe ihr Kind anvertrauen. Das bedeutet für mich als Mutter: Ich bin nicht die einzige Instanz, ich kann mein Kind freigeben und loslassen. Ich habe ein grosses Vertrauen, dass Gott mein Kind begleitet, auch wenn ich es nicht kann.
Mütter dürfen also bei Problemen darauf vertrauen, dass alles letztendlich gut wird?
Im christlichen Glauben können wir sehr wohl der Tatsache ins Auge schauen, dass nicht immer alles gut wird. Und Mütter müssen nicht alles leisten können, und Kinder müssen nicht alles erfüllen, was die Eltern von ihnen erwarten. Ein Kind ist kein Projekt, es muss nicht alles erreichen, was möglich ist an Leistung, an Karriere, an Aussehen, an Vollkommenheit. Da ist Glaube eine sehr entlastende Lebensform. Ich kann darauf vertrauen: «Dieses Kind wird seinen Weg schon finden, auch wenn es vielleicht nicht der Weg ist, den ich für richtig halte». Ich möchte Frauen Mut machen.
Mit welcher biblischen Mutter können Sie sich identifizieren?
Das variiert. Eine Frau, die sich ein Kind wünscht und dann gebiert, hat vielleicht ganz stark das Maria-Gefühl. Mit meinen vier Kindern war mir manchmal auch Lea nahe, obwohl sie noch mehr Kinder hatte. Sie versucht allen gerecht zu werden eine Herausforderung.
Maria gilt als die Vorzeige-Mutter...
Eine Zeitlang spielte Maria in der evangelischen Theologie fast keine Rolle. Erst die feministische Theologie entdeckte sie neu. Sie zeigt uns eine Frau, die unter unklaren Umständen schwanger ist, von der man nicht weiss, ob sie verheiratet ist, und die offensichtlich sehr jung ist. Das Bild der Maria mit ihrem toten Sohn im Arm, die Pieta, ist bis heute anrührend. Eine Mutter, die ihr Kind begleitet, selbst wenn es unter weltlichen Gesichtspunkten zum Verbrecher wird, verurteilt wird und einen grausamen Foltertod stirbt.
Warum ist es wichtig, die biblischen Mütter-Geschichten zu erzählen?
Zum einen möchte ich damit die Bibel «unter die Leute bringen». Zum andern ist es mir wichtig, die Frauengestalten zu entdecken. Es wird immer gesagt, die Kirche sei männerdominiert und die Bibel sei von dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs geprägt. Mich faszinieren die Frauengestalten der Bibel, die Brüche kennen. Sie kämpfen, ringen, scheitern, zweifeln und sagen uns durch ihr Beispiel: «Versuchs, tue dein Bestes, mehr kannst Du nicht tun».
Oft wird der Eindruck erweckt, Beruf und Kinder seien leicht zu vereinbaren. Viele Mütter werden aber von Zweifeln geplagt, nicht zu genügen. Wie erging es Ihnen?
So ist es mir auch gegangen. Niemand darf behaupten, es sei einfach, Berufstätigkeit und Kindererziehung miteinander zu verbinden. Das ist nicht einfach, sondern ein unwahrscheinlicher Kraft- und Balanceakt.
Mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hatten wohl die biblischen Frauen weniger zu kämpfen.
Die biblischen Frauen lebten in einer Welt, in der Leben und Arbeiten integriert waren. Meine Grossmutter war Frau eines Gutsverwalters. Da gingen Beruf und Familie ineinander über. Auch meine Mutter war berufstätig im eigenen familiären Betrieb, Tankstelle und Kfz-Werkstatt. Da waren wir Kinder immer irgendwie mit dabei. Heute, gerade in einer Stadt, können die Kinder oft noch nicht mal mehr alleine hinausgehen. Die Architektur, die Lebenswelt haben sich verändert. Das ist für Kinder und Mütter eine Einschränkung.
Zur Person
Margot Käßmann, geboren 1958, ist eine deutsche evangelisch-lutherische Theologin und Pfarrerin. Von 1999 bis 2010 war sie Landesbischöfin der Landeskirche Hannover, von 2009-2010 war sie zudem Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD). Seit April ist sie als «Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017» wieder für die EKD tätig. Margot Kässmann hat vier erwachsene Töchter und ist seit 2007 geschieden. Ihre Porträt-Sammlung «Mütter der Bibel» ist 2008 im Herder-Verlag erschienen.
Annette Meyer zu Bargholz und Karin Müller
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