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Notschlafstelle Schaffhausen

«Jeder Mensch kann sein Zuhause verlieren»

von Adriana Di Cesare
min
27.11.2025
Eine Krise, ein Bruch – und das gewohnte Leben ist vorbei. Die Notschlafstelle Schaffhausen fängt Menschen auf, die nirgendwo mehr wohnen können. Leiterin Angela Lagler erlebt täglich, wie dünn der Boden ist, auf dem wir stehen. 

Die Notschlafstelle ist ein Auffangnetz für Menschen, deren Leben aus der Bahn geraten ist. Wer nachts anklopft, findet ein Bett. Am nächsten Morgen klärt das Team, wie es weitergehen kann. Manche reden, manche schweigen und alle brauchen Zeit, um Vertrauen zu fassen.

Grundsätzlich ist die Notschlafstelle im Mühlental für Menschen aus der Stadt und dem Kanton Schaffhausen gedacht, doch niemand wird in einer Notlage abgewiesen. Auch Personen aus anderen Kantonen oder EU-Bürgerinnen dürfen eine Nacht lang bleiben. Personen ohne Aufenthaltsgrund werden beraten und an andere zuständige Stellen ausserhalb des Kantons verwiesen. Sozialhilfe oder IV/EL tragen die Kosten. Menschen, die arbeiten, aber zu wenig verdienen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, zahlen eine reduzierte Pauschale.

Bei Sozialhilfe- oder EL-Bezügern beträgt die Tagestaxe hundert Franken. Zum «Sozialen Wohnen» gehören: Wohnberatung, Wohnbegleitung, Tagesstruktur, betreutes Wohnen. Spürbar verschärft der Wohnungsmarkt die Not. «Es gibt immer weniger günstigen Wohnraum, und gleichzeitig steigen die Mieten», so Lagler. «Auch Menschen, die arbeiten, finden oft keine bezahlbare Wohnung mehr.»

Klare Verhaltensregeln

In der Notschlafstelle stehen rund 30 Plätze zur Verfügung. Acht Personen teilen sich je eine Wohneinheit. Zu den Gästen gehören Männer und Frauen aus allen Alters- und Bildungsschichten, auch für Familien gibt es einen Platz. Tagsüber müssen alle das Haus verlassen.

Einige verbringen Zeit in der Stadtbibliothek, andere nutzen Angebote wie die Gassenküche oder die Tagesstruktur, die das «Soziale Wohnen» ebenfalls anbietet. Dazu gehören Reinigungs-, Unterhalts- und Umgebungsarbeiten in der Notschlafstelle. «Mitzuarbeiten kann kleine Schritte zurück in den Alltag bedeuten: regelmässig an einem Ort sein, eine Aufgabe übernehmen, ein Stück weit Verantwortung tragen.»

Menschen dürfen anders sein. Nicht alle passen ins Bild von Leistung und Norm. Aber sie gehören zu uns. Sie sind mitten in unserer Gesellschaft, nicht am Rand.

Die Hausordnung ist bewusst einfach gehalten: Nachtruhe ab 22 Uhr, keine Gewalt, keine Drogenverkäufe, keine Lebensmittel in den Zimmern. Konsum von Substanzen ist geduldet, solange niemand belästigt wird. Besuch ist nicht erlaubt zum Schutz der Privatsphäre aller. «Einige sind aus anderen Wohnformen oder Institutionen rausgefallen, weil sie die Regeln dort nicht einhalten konnten», sagt Lagler. «Darum setzen wir auf wenige klare Grundsätze und Eigenverantwortung.»

Eigenverantwortung ist ein Schlüsselwort in ihrer Arbeit. Viele Menschen haben nie gelernt, selbst zu entscheiden. Andere haben viel verloren. Und wieder andere tragen schwere psychische Belastungen. «Wir haben Betroffene von Anfang 20 bis über 70, Menschen mit Heimgeschichten, Menschen mit Studium und Berufsabschluss, Menschen mit Biografien, die durch eine Krise komplett aus dem Tritt geraten sind.»

Keine Berührungsängste

Was die Sozialarbeiterin antreibt, ist nicht nur Professionalität, sondern eine innere Haltung. «Das Wichtigste ist: Man muss Menschen gerne haben.» Ihr Team besteht bewusst aus Personen, die keine Berührungsängste haben und authentisch bleiben. «Unsere Gäste spüren sofort, ob jemand ihnen vorbehaltlos begegnet oder nicht.» Viele, die in der Gesellschaft auffallen, laut, verwirrt, schimpfend, haben Angst. Und die Gesellschaft hat Angst vor ihnen. «Da entsteht eine wechselseitige Dynamik. Verständnis würde vieles entspannen.» Was sich Angela Lagler für unsere Gesellschaft wünscht, ist Akzeptanz: «Menschen dürfen anders sein. Nicht alle passen ins Bild von Leistung und Norm. Aber sie gehören zu uns. Sie sind mitten in unserer Gesellschaft, nicht am Rand.»

Die Notschlafstelle kann ein erster Schritt sein. Was fehlt, ist eine Anschlusslösung. Eine Wohnform zwischen Notschlafstelle und betreutem Wohnen: Zweierzimmer, wenig Regeln, Nähe und die Möglichkeit, Alltag zu üben auch tagsüber. «Ein Ort, der Menschen nicht nur auffängt, sondern stärkt. Der sie begleitet, ohne zu überfordern. Ein Ort, an dem jemand bleiben kann, bis das Leben wieder tragfähig wird», betont Lagler.

Eine Stimme für die Menschen

Sind alle gefährdet, in eine existenzielle Notlage zu geraten? «Theoretisch kann das jedem passieren», bestätigt Lagler. Eine Trennung, eine Kündigung, eine psychische Krise – und plötzlich bricht der Boden weg. Viele ihrer Gäste haben gearbeitet, studiert, Familien gehabt. «Zwischen einem Einfamilienhaus mit perfektem Rasen und einem Vierbettzimmer in der Notschlafstelle liegen manchmal nur wenige Schritte – und eine Schicksalswende.»

Doch die Notschlafstelle ist nicht nur ein Dach über dem Kopf. Sie ist auch ein symbolischer Ort. Ein Ort, an dem Menschen eine Stimme bekommen, die sonst nicht gehört werden. «Das ist mein Antrieb», sagt Angela Lagler. «Diese Menschen sind nicht machtlos, weil sie unfähig sind, sondern weil ihnen niemand zuhört. Ich versuche, ihnen Gehör zu verschaffen und ihnen zu zeigen, dass sie es verdienen, gesehen zu werden.»

 

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