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Interview: Wolfram Kötter, Kirchenratspräsident

«Kirche leistet viel, oft im Verborgenen»

von Carmen Schirm
min
27.09.2023
Der Schaffhauser Kirchenratspräsident Wolfram Kötter über seine Visionen für die Reformierte Kirche, die Reaktionen auf den drohenden Pfarrermangel, Glaubenscourage und darüber, wie er selbst Zweifel über­windet.

Welches Bild würden Sie über die Lage der Reformierten Kirche Schaffhausen zeichnen?

Eine Gruppe Menschen, fröhlich wandernd.

Weshalb haben Sie dieses Bild gewählt?

Die Kirche ist verstaubt, das ist das Bild, das im Moment in den Köpfen vieler vorhanden ist. Das ist Nonsens. Es wird so viel gute Arbeit geleistet, oft jedoch im Verborgenen. Das fehlt uns, dieses positive Bild von dem, was da ist, nach aussen zu tragen.

Welche Vision haben Sie für Ihre Kirche?

Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, eine geistige Erneuerung herbeizuführen. Dass wir eine Sprache für Menschen finden, damit sie wieder eine geistige Heimat spüren und sagen: Da fühle ich mich zu Hause. Dass Menschen auch wieder einmal eine Bibel in die Hand nehmen und lesen.

Weshalb wenden sich Menschen von der Kirche ab?

Soziologisch gesehen nennt man das einen Megatrend. Wir erleben das nicht nur in Kirchen. Es betrifft alle gesellschaftspolitischen Bereiche. Immer weniger Menschen sind bereit, sich zu binden oder Verantwortung zu übernehmen. Das ist auch bei vielen Vereinen so. Der Anteil der Menschen ohne Konfession wird grösser, was nicht heisst, dass die Menschen weniger fromm oder spirituell sind.

Was setzen Sie diesem Trend entgegen?

Wir haben einerseits Kirchgemeindemitglieder, die ganz bewusst einen traditionellen Rahmen suchen. Sie bilden die Kerngemeinde der Kirche, Menschen, die im Kirchenchor singen oder bei einem Basar mithelfen. Das nehme ich sehr ernst. Sie haben über Jahrzehnte lang das Kirchenleben geprägt. Bei jenen Menschen, die den Bezug zur Kirche verloren haben, gilt es, neu anzusetzen. Wir versuchen künftig bewusst, mit Katechetinnen unters Volk zu gehen und sinnvolle Familienarbeit zu leisten.

Sie haben letztens an einem Anlass die Pfarrer aufgefordert, mehr unter die Leute zu gehen. Ist das ein Teil der Lösung?

Arbeit von unten, das ist unser Kerngeschäft. Wer immer im Bereich der Kirche arbeitet, egal ob als Musiker, Mesmer oder Katechet, lebt von den Beziehungen, die er aufbaut. Es ist eine Vision von Kirche von mir, Keimzellen zu gründen, in denen sich Menschen treffen, die Bibel lesen und fürsorglich miteinander umgehen.

Es gibt immer mehr alternative ­Formen des Gottesdienstes. Können die Menschen auf diesem Weg ­wieder für die Kirche begeistert werden?

Wir haben ganz viele verschiedene Gottesdienstformate, die beliebt sind, wie die Gottesdienste für Zweifler, Sofa-Gottesdienste, Jazz-Gottesdienste oder Kantaten-Gottesdienste zum Bachfest. Bei einem Gottesdienst am Rhein gab es allein an einem Sonntag acht Taufen. Das ist grossartig.

Ein wenig mehr Zivilcourage oder Glaubenscourage, das wäre schön.

In der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Schaffhausen werden in den kommenden fünf Jahren 17 von 28 Pfarrpersonen pensioniert. Gleichzeitig ist die Zahl der Studienabgänger zu niedrig, um den Bedarf zu decken. Wie reagiert man darauf?

Das ist aktuell die grosse Herausforderung für alle Kantonalkirchen. Wir müssen Strukturen schaffen, Personen finden, im Pfarramt, in der Katechetik oder in der Diakonie, die über die eigene Kirchgemeindegrenze hinweg Aufgaben betreuen.

Eine Pfarrperson wird also in Zukunft zwei oder drei Kirch­gemeinden betreuen?

Ja, genau. Gleichzeitig werden die Kirchgemeinden allesamt kleiner. Wir haben jetzt noch 26'000 Mitglieder, in Relation zu 84'000 Menschen, die im Kanton wohnen. Ehemals waren es 35'000. Die geburtenstarken Jahrgänge sterben langsam weg. Wir werden in 15 Jahren deutlich kleinere Kirchgemeinden haben.

Was beschäftigt Sie aktuell persönlich?

Mich beschäftigt die Frage, wie wir als kirchliche Mitarbeitende unseren Glauben leben. Sind wir erkennbar als Christen oder nicht? Es gibt heute ein verstecktes Christentum. Sobald man auf die Strasse geht, lässt man das Kreuz im Haus hängen. Wir bewundern zwar die Zeugen Jehovas, die sich trauen, für ihren Glauben auf die Strasse zu gehen. Aber wir selbst sind draussen kaum in der Lage, Flagge zu zeigen. Wir müssen uns nicht verstecken. Wir haben eine gute Frohe Botschaft, die sich auch in der heutigen Zeit anwenden lässt. Ein wenig mehr Zivilcourage oder Glaubenscourage, das wäre schön.

Wie zeigen Sie Ihren Glauben nach aussen?

Ganz profan. Auch wenn wir nur noch zu zweit sind, halten meine Frau und ich zum Beispiel am Tischgebet fest. Als die Kinder noch zu Hause wohnten und Freunde mitbrachten, sagten sie ihnen vor der Tür: «Achtung, wir beten noch beim Essen!»

Sie sind bald seit 40 Jahren im Pfarrberuf. Ist der Beruf so, wie Sie es sich vorgestellt hatten?

Es war die richtige Entscheidung. Ich kann mir keinen schöneren Beruf vorstellen. Man kann in die Lebensgeschichten von anderen eintauchen, kann Menschen in Krisenzeiten begleiten, nicht nur als Psychologe und Lebensberater, sondern indem man ihnen rät, es auch mal mit einem Gebet zu versuchen. Wir Menschen geraten in Situationen, in denen wir selbst nichts mehr machen können und wir die Unterstützung von aussen benötigen.

Wie kam es, dass Sie sich dafür entschieden haben, Pfarrer zu werden?

Eigentlich wollte ich Architekt werden. Ich stellte aber schnell fest, dass meine Begabung für Mathematik nicht ausreicht. Der Berufsberater riet mir, mit Menschen zu arbeiten. Ich wollte aber nicht Sozialarbeiter werden. Bei dieser Tätigkeit hätte mir die spirituelle und geistliche Perspektive gefehlt. Als ich dann in einem Kloster Exerzitien besuchte, sagte dort ein Bruder zu mir, dass ich Pfarrer werden würde. Das hatte mich beeindruckt. ­

Hat Ihnen die Seelsorge manchmal Mühe bereitet?

Es gab schon Situationen, die mich sprachlos machten und mich zweifeln liessen. Die schwierigste war eine Sterbebegleitung bei einem Mann mit Kehlkopfkrebs. Er hatte eine Geschwulst von 2,5 Kilo, konnte weder schlucken noch sprechen. Zudem hatte er sich mit seiner Tochter zerstritten, die er noch einmal sehen wollte. Bei einer kleinen Andacht in der Krankenhauskapelle hatte ich beide zusammengebracht.

Diese eine Stunde am Sonntag gönne ich mir.

Wie schaffen Sie es, Zweifel zu überwinden?

Als Pfarrer muss man auch immer wieder Kinder beerdigen. Das jüngste war vier Wochen alt. An diesem Beispiel wurde mir deutlich, dass wir nicht nur ein irdisches, sondern auch ein himmlisches Zelt haben. Das verdrängen wir häufig aus unserem Alltag. Calvin sagte zu den Hugenotten, die alles verloren hatten und davorstanden, im Winter zu erfrieren: «Ihr seid auserwählt, es kommt noch etwas auf euch zu!» Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat geschrieben: «Manche Blumen sind dazu bestimmt, nur einen Tag zu blühen.» Ich sage ja, weil es danach einen ewigen Garten gibt. Das klingt vielleicht platt. Aber auch ein vier Wochen altes Kind, das verstorben ist, wird aufblühen zu einem neuen Leben. Das ist ein Glaube, ja, aber daran glaube ich.

Spüren Sie Gott in Ihrem Alltag?

Es gab mehr als eine Situation in meinem Leben, in der ich gehalten wurde. Ich werde manchmal gefragt, warum ich so fröhlich sei …

… und was antworten Sie darauf?

Ja, ich bin fröhlich. Ich bin erlöst. Ich weiss mich getragen, ich weiss mich geborgen. Das gibt mir Kraft im Alltag.

Sie haben vier Kinder. Treten diese in Ihre Fussstapfen?

Sie haben alle einen anderen Beruf. Aber sie nehmen, jedes einzelne anders, die soziale Verantwortung wahr. Die christliche Erziehung war also nicht umsonst.

Zum Schluss: Warum lohnt es sich, einen Gottesdienst zu besuchen?

Ich bin ein Gottesdienst-Mensch. Ich brauche sonntags einen Gottesdienst. Ich habe gemerkt, dass ein Gottesdienst eine heilsame Unterbrechung des Alltags ist. Diese eine Stunde am Sonntag gönne ich mir.

 

Wolfram Kötter

Wolfram Kötter (62) studierte Theologie in Bielefeld-Bethel sowie Tübingen. Ab den Neunzigerjahren war er als Pfarrer tätig sowie für die Evangelische Landeskirche in Westfalen als ­Beauftragter zum Aufbau ökumenischer ­Beziehungen mit der Waldenserkirche in Italien. Seit 2010 lebt er in der Schweiz. Er ist Pfarrer in der Zwinglikirche in Schaffhausen ­sowie in Neuhausen am Rheinfall. Seit 2019 ist er Kirchenratspräsident. Er ist verheiratet und hat vier Kinder zwischen 23 und 30 Jahren.

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