Mit freiwilliger Tätigkeit für das Alter vorsorgen
«Ich weiss nicht, in welche Situation ich eines Tages komme», sagt Richard Lux. Aber es gebe ihm ein gutes Gefühl, bei der Stiftung Zeitvorsorge über ein Zeitguthaben zu verfügen – für den Fall, dass er später selber stundenweise Begleitung oder Gesellschaft brauche.
Vom Projekt Zeitvorsorge hatte der 79-jährige St. Galler in der Zeitung gelesen, sofort meldete er sich an. Mit einem Teil seiner Zeit etwas Sinnvolles zu tun, Hochbetagte zu unterstützen und sich dabei selber für die Zukunft abzusichern – diese Idee gefiel ihm.
Etwa zum gleichen Zeitpunkt realisierte Annemarie Spirig, dass ihr kranker Mann Jean-Pierre nicht mehr alleine sein konnte. Die Situation belastete sie, weil sie kaum noch zum Haus rauskam. Annemarie Spirig, ebenfalls wohnhaft in St. Gallen, bat die Stiftung Zeitvorsorge um Hilfe. Diese brachte sie und ihren Mann mit Richard Lux zusammen.
Die drei waren sich auf Anhieb sympathisch. Mehrere Jahre kümmerte sich Richard regelmässig einen Nachmittag lang um den über 90-jährigen Jean-Pierre. Mal fuhr er ihn im Rollstuhl spazieren, ein andermal klopften die beiden ein Jässchen. Die Stunden, die sie miteinander verbrachten, meldeten sie der Zeitvorsorge. Auf Richard Lux’ Konto sind heute weit über 400 Stunden verbucht.
Zeitbanken für die Altersvorsorge sind schon länger ein Thema. Weil immer mehr Menschen älter werden und Betreuung brauchen, sind Ideen gefragt, wie die Gesellschaft mit den demografischen Veränderungen sinnvoll umgehen kann. 2007 lancierte der damalige FDP-Bundesrat Pascal Couchepin die öffentliche Diskussion über die Zeitvorsorge. Ein Jahr später beauftragte das Bundesamt für Sozialversicherung das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS mit der Ausarbeitung eines Berichts zu Zeitgutschriften für die Begleitung älterer Menschen. Daraus entstand die Stiftung Zeitvorsorge mit Sitz in St. Gallen. 2014 nahm sie ihre operative Tätigkeit auf.
Stadt St. Gallen garantiert Einlösbarkeit
Heute wird die Geschäftsstelle von zwei Mitarbeitenden in Teilzeitpensen betrieben. Sie vermitteln Tandems wie das von Richard Lux und Jean-Pierre Spirig. Überdies können Freiwillige, die bei Partnerorganisationen ehrenamtlich tätig sind, ihre geleisteten Stunden bei der Zeitvorsorge auf einem persönlichen Konto erfassen lassen. Zu den 17 Partnerorganisationen gehören die Pro Senectute, das Rote Kreuz und die reformierte Kirche St. Gallen. Auch Mithilfe bei Gemeinschaftsaktivitäten wie Mittagstische kann man sich auf dem Zeitvorsorgekonto gutschreiben lassen.
Mit an Bord ist seit Beginn die Stadt St. Gallen. Als Vertragspartnerin garantiert sie, dass die Zeitvorsorgenden ihre geleistete Zeit später in Form von Begleitung und Unterstützung zurückerhalten. «Dabei handelt es sich nicht um eine finanzielle, sondern um eine moralische Verpflichtung», sagt Jürg Weibel, Geschäftsleiter der Stiftung. Die Stadt werde alles daransetzen, die Stiftung und damit das Zeitvorsorgemodell fortzuführen. Bei anderen Zeitbanken gebe es keine solche Garantie.Infobox: Symposium zur Zeitvorsorge
Am 26. September 2024 findet im Square der Uni St. Gallen anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Stiftung Zeitvorsorge ein öffentliches Symposium statt. Neben Referaten und einer Podiumsdiskussion mit Fachleuten und Verantwortlichen aus dem Altersbereich erhalten Teilnehmende einen Einblick in Geschichte und Tätigkeitsbereiche der Zeitvorsorge. In einer Sonderausstellungwerden Smart-Home-Technologien für das Wohnen im Alter vorgestellt.
Symposium zur Zeitvorsorge
Am 26. September 2024 findet im Square der Uni St. Gallen anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Stiftung Zeitvorsorge ein öffentliches Symposium statt. Neben Referaten und einer Podiumsdiskussion mit Fachleuten und Verantwortlichen aus dem Altersbereich erhalten Teilnehmende einen Einblick in Geschichte und Tätigkeitsbereiche der Zeitvorsorge. In einer Sonderausstellungwerden Smart-Home-Technologien für das Wohnen im Alter vorgestellt.
Nebst dem Modell der Stiftung Zeitvorsorge gibt es in der Schweiz auch andere Zeittauschsysteme. Diese werden auch kritisch gesehen. In einer Publikation von Diakonie Schweiz der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) von 2021 wird den Kirchgemeinden nahegelegt, sich statt an Zeittauschsystemen am Konzept der «Sorgenden Gemeinschaften» zu orientieren. «In den Kirchgemeinden wird Gemeinschaft gelebt, nicht der Tausch im Sinne eines Erbringens von Leistung und Gegenleistung gefördert», steht im Bericht. Vernetzung wird empfohlen, eine Beteiligung jedoch nicht.
Daran halten sich nicht alle. Beim Mittagstisch der reformierten Kirchgemeinde Straubenzell in St. Gallen zum Beispiel gibt es Freiwillige, die sich die geleisteten Stunden bei der Zeitvorsorge gutschreiben lassen. Sozialdiakonin Monica Ferrari unterstützt sie darin: «Ich finde es in Ordnung, wenn diese Frauen nicht länger bloss frei und willig helfen, sondern auch etwas zurückbekommen wollen.»
Sichtbarkeit von freiwilliger Tätigkeit
Laut Ferrari soll die Allgemeinheit wissen, wie viele ehrenamtliche Stunden geleistet werden. Sie schätzt es zudem, dass die Zeitvorsorge mit den Richtlinien von Benevol arbeitet, Weiterbildungen und einen Austausch für die Partnerorganisationen ermöglicht. Diese Vernetzungsarbeit sei wertvoll.
Richard Lux ist bereits seit über acht Jahren Zeitvorsorgender. Mittlerweile aber ist er in einem neuen Tandem. «Als Jean-Pierre Spirig vor zwei Jahren verstarb, ging mir sein Verlust sehr nahe. Wir haben zusammen viele Schönes und manche Abenteuer erlebt», erzählt er. Seine neue Tandemgefährtin ist Annemarie Spirig. Die 87-jährige sagt: «Herr Lux ist eine absolute Bereicherung. Ich bin eine glückliche ältere Frau. Nicht zuletzt dank der Zeitvorsorge.»
Zeitvorsorge in Zahlen
In den vergangenen zehn Jahren ist die Zeitvorsorge stetig gewachsen. Alleine in St. Gallen haben 342 ehrenamtliche Zeitvorsorgende 2023 total 11 277 Stunden geleistet, 12 Prozent mehr als im Vorjahr. Seit 2014 wurden insgesamt rund 80'000 Stunden soziale Zeit für betagte Menschen erbracht und bei der Zeitvorsorge registriert. Rund ein Drittel der Zeitvorsorgenden war bisher nicht als Freiwillige tätig.
Weil aus steuerrechtlichen Gründen jeder Person maximal 750 Stunden gutgeschrieben werden können, wanderten im vergangenen Jahr zusätzlich 11'300 Stunden auf das sogenannte Sozial-Konto – diese Stunden kommen Menschen zugut, denen es nicht möglich war, ein eigenes Konto zu äufnen.
2023 haben 160 Personen bei der Zeitvorsorge Leistungen bezogen. Mindestens doppelt soviele Leistungsbeziehende profitieren von Gemeinschaftsaktivitäten, bei denen Zeitvorsorgende mitmachen. Seit 2023 erhält ein halbes Dutzend Zeitvorsorgende erstmals selber Begleitung und Gesellschaft, hat also begonnen, das eigene Zeitguthaben einzulösen.
Die Zeitvorsorge gibt es mittlerweile auch in Rapperswil-Jona und Gossau, weitere Gemeinden sind interessiert.
Mit freiwilliger Tätigkeit für das Alter vorsorgen