Mit Lebensmut der Armut trotzen
Mehr als 32‘000 Menschen im Baselbiet sind von Armut betroffen oder bedroht. Trotz stabiler Wirtschaftslage und bestehender Sozialsysteme gelingt es ihnen kaum, ihren Alltag finanziell zu bewältigen. Hinter dieser Zahl stehen nicht nur Statistiken, sondern menschliche Schicksale, die oft übersehen werden, denn für viele ist Armut noch immer ein Tabuthema.
Das Besondere an den Bildern: Den Menschen auf den Fotos ist nicht anzusehen, dass sie arm sind. Sie lachen, posieren mit aufrechtem Rücken, ihre Blicke selbstbewusst und zielgerichtet. «Ich wollte die Menschen in ihrer Stärke zeigen», sagt die Fotografin Eva Flury. | Alle Fotos: Eva Flury, «Beyond Labels. Intimate Portraits of Resilience»
Kein finanzieller Spielraum
In einer kleinen Ausstellung in der römisch-katholischen Landeskirche in Liestal klären am 17. Oktober Infotafeln über die verschiedenen Formen der Armut auf. Eine Kunstinstallation weist ausserdem auf die alltäglichen Herausforderungen von Armutsbetroffenen hin: eine unbezahlte Rechnung, ein kaputtes Paar Turnschuhe. Zentrum der Ausstellung ist ein kurzer Film, in dem die Betroffene Frau B. von ihrem Alltag erzählt. «Ich fühle mich nicht arm», sagt die alleinerziehende Mutter mit einem selbstbewussten Lächeln in die Kamera. «Weil wenn man gesund ist, ist man nicht arm.» Frau B. kam als Kriegsflüchtling in die Schweiz. Mit der Unterstützung der kirchlichen Sozialberatung vor Ort ist es ihr inzwischen gelungen, Deutsch zu lernen und eine Anstellung zu finden. Dennoch geht ihr das Geld in der Hälfte des Monats oft aus. Menschen, die am Existenzminimum leben, können von der staatlichen Sozialhilfe unterstützt werden – 1061 Franken bekommt eine Einzelperson monatlich.
«Mir schlägt es auf den Magen, wenn Leute behaupten, Sozialgeldempfänger seien Schmarotzer», sagt Michael Frei, Leiter des Fachbereichs Diakonie und Sozialarbeit der Römisch-katholischen Kirche Baselland. Er hat die Ausstellung zum internationalen Tag der Beseitigung der Armut organisiert, um auf Armut und Benachteiligungen hinzuweisen und Betroffenen eine Stimme zu geben. Über 40 Prozent des Sozialgelds müssen für den Grundbedarf an Lebensmitteln eingerechnet werden, dazu kommen Auslagen für Verkehr, Internet und Strom. «Von diesem Geld kann nicht gespart werden», betont er.
Dem stimmt auch Domenico Sposato von der Caritas beider Basel zu. «Armut bedeutet Stress, wenn ich den Briefkasten leere», sagt er. «Was mache ich, wenn ich eine unerwartete Rechnung vorfinde? Mein finanzieller Spielraum für solche Ausgaben ist klein und schnell ausgeschöpft.»
Finanzielle Not ist psychische Not
Laut Artikel 8 der Bundesverfassung sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Die Umsetzung scheitert jedoch oft an der sozioökonomischen Realität. «Sie erschwert Kenntnisse der eigenen Rechte und macht fachlichen Beistand unerschwinglich», erklärt Sposato. Nebst insgesamt 708‘000 Armutsbetroffenen gibt es in der Schweiz noch die gleiche Anzahl an Working Poors. Sie leben trotz Erwerbstätigkeit unter dem Existenzminimum. Dazu kommen Alleinerziehende und Menschen im AHV-Alter, die mit den steigenden Miet- und Energiepreisen überfordert sind.
«Armut kann jeden treffen»
Armut, das wird einem in der Ausstellung schnell klar, kratzt an der Menschenwürde. Diese Würde wollte die Riehener Fotografin Eva Flury wieder herstellen: Sie porträtierte Menschen in der Gassenküche in Basel, wo sie selber sieben Jahre gearbeitet hat.
Viele Menschen, beobachtet sie, sind mit der Bürokratie in der Schweiz überfordert. Sie haben nie gelernt, wie man ein Haushaltsbudget erstellt oder eine Steuererklärung ausfüllt. «Armut kann jeden treffen», sagt Flury. Es reiche ein Unfall oder der Jobverlust. Bis eine Person ausserdem bekommt, was ihr zusteht, vergeht oft viel Zeit, Betroffene verschulden sich. Armut hat schwerwiegende Auswirkungen: «Finanzieller Druck ist eine Last. Sie schlägt auf die Psyche und führt zu Depressionen.»
Flurys Ausstellung «Beyond Labels. Intimate Portraits of Resilience» wurde am 17. und 18. Oktober im ehemaligen Pfarrhaus in Sissach gezeigt. Das Besondere an den Bildern: Den Menschen auf den Fotos ist nicht anzusehen, dass sie arm sind. Sie lachen, posieren mit aufrechtem Rücken, ihre Blicke selbstbewusst und zielgerichtet. «Ich wollte die Menschen in ihrer Stärke zeigen», sagt Flury. «Nicht in ihrer Armut, nicht in ihrem Alleinsein. Ich sehe, wie resilient sie sind. Wie viel Stärke da ist. Wie sie ihren Weg weitergehen.»
Mit Lebensmut der Armut trotzen